über das vergessen und erinnern

Autorin: Linda

Je älter ich werde, desto mehr habe ich Angst zu vergessen. Nicht den Geburtstag meiner Eltern oder Klausurtermine, sondern das Chinesischsein. Unsere Bräuche, unser Essen, unsere Geschichte, unser Miteinander.

In meinem Seminar Diasporaforschung ging es letztens um das Kollektive Gedächtnis einer Diaspora. Was heißt es eigentlich, sich in einer Diaspora zu erinnern, welche Funktion hat es?

„Um seine eigene Vergangenheit wachzurufen, muss ein Mensch oft Erinnerungen anderer zu Rate ziehen. Er nimmt auf Anhaltspunkte Bezug, die außerhalb seiner selbst liegen und von der Gesellschaft festgelegt worden sind. Mehr noch, das Tätigsein des individuellen Gedächtnisses ist nicht möglich ohne jene Instrumente, die durch die Worte und Vorstellungen gebildet werden, die das Individuum nicht erfunden und die es seinem Milieu entliehen hat.“ (Halbwachs: 1985)

Erinnerungen innerhalb einer Diaspora sind identitätsstiftend, sie stärken und zeigen uns, wer wir mal waren, wer wir jetzt sind, was wir später sein können. Jede Anekdote oder Erzählung, so jene Kleinigkeit die unsere Erinnerung verlebendigt, ist für uns einzelnen ein „Treffpunkt der kollektiven Zeiten“ (Halbwachs: 1985)

Gerade an den Erzählungen meines Vaters merke ich die Wichtigkeit des Kollektiven Gedächtnisses, wie wichtig es ist, sich zu erinnern. Mein Urgroßvater wurde zu Mao Zedongs Zeiten enteignet und inhaftiert, mein Großvater wuchs in Armut und Hunger auf. Meinem Vater erging es nicht besser, sein Glück verschlug ihn nach Shanghai, später nach Deutschland.

Wie vielen sind es wohl aus der chinesischen, spezifisch der deutsch-chinesischen Diaspora, die diese geschichtliche Dimension ihrer Familie genau so nachzeichnen können?

Ich trage ein rotes Armband mit kleinen Jadesteinen an meinem linken Handgelenk und in meiner Wohnung sind gefühlt in jeder Schublade rote Umschläge 红包 zu finden, die ich zu den verschiedensten Anlässen bekommen habe. Ich sehe überall chinesische „All You Can Eat“ Restaurants und chinesische Imbisse, von denen weiße Menschen glauben, dass sie authentisch seien. Doch nur wir wissen, dass es am Tisch für jede Person eine Schüssel Reis und dazu Beilagen aller Art gibt, Fisch, Fleisch oder Gemüse, von der sich jede Person etwas nehmen kann. Ich weiß nicht, wie man diese Gerichte kocht, ich weiß noch nicht mal, wie sie heißen. Ich weiß mehr über den amerikanischen Imperialismus als die chinesischen Dynastien. Ich belege einen Chinesischkurs an der Uni, damit ich zumindest unsere Sprache nicht vergesse.

Wie vielen aus meiner Diaspora ergeht es wohl genau so wie mir?

Ich weiß nicht, wie groß die chinesisch-deutsche Diaspora ist, ich weiß noch nicht mal, wo ich sie finde. Ich kenne nur eine Handvoll deutsch-chinesischer Personen, doch für Jeden, den ich kenne, bin ich dankbar. Wir brauchen einander, um uns zu erinnern und uns nicht zu vergessen.



Literatur:

Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 35-123.

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Aber du hast doch die deutsche Staatsbürgerschaft