Aber du hast doch die deutsche Staatsbürgerschaft

Autorin: Anna Tianye

Illustratorin: Christina Zhu

Triggerwarnung:

Dieser Text handelt von meiner Kritik an der vermeintlichen Verknüpfung von Staatsangehörigkeit und Identität. Das Thema Staatsbürgerschaft kann nicht ohne Privilegien gedacht werden und meine Chinesisch-Deutsche Perspektive spiegelt meine Privilegien wider. Bitte denkt daran und passt beim Lesen auf euch auf. ♥️

2012
Ich bin in der 8. Klasse. Mein Gymnasium ist groß, 270 Schüler*innen in meiner Stufe. Anzahl der chinesischen Schüler*innen im Jahrgang: zwei, inklusive mir. Den „anderen Chinesen“ kenne ich nur vom Sehen. Seine Familie führt ein Chinarestaurant, seine Freunde nennen ihn scherzhaft Ling Ling. Ich weiß nicht, wo dieser Witz herkommt, wie er das findet. Wissen seine Freunde, dass líng 零 auf Chinesisch null heißt? Ist das ihre Vorstellung von Humor?

Auf der Klassenliste steht mein voller Name, mit dem chinesischen Zweitnamen. Keine meiner Lehrkräfte kann ihn aussprechen. Ich sage ihnen direkt nach dem ersten Versuch, dass es reicht, wenn sie mich bei meinem deutschen Erstnamen nennen. Ich schneide den chinesischen Namen ab, mache mich kleiner, mundgerechter. Bloß nicht auffallen - fehlt nur noch, dass mir irgendjemand auch so einen bescheuerten Spitznamen verpasst.

Wenn mich Mitschüler*innen auf mein Chinesischsein ansprechen, ist mir das peinlich. „Ich bin Deutsche, ich habe doch die deutsche Staatsbürgerschaft,“ bestehe, beharre, bettele ich. Wie einen Schutzschild halte ich dieses Stück Papier vor mich, eine Verteidigung gegen Ausgrenzung, Blicke, Witze und Sticheleien. Bitte lasst mich doch einfach dazugehören.

2017
Es ist der Abend des Abiballs. Ich mache Fotos mit meinen Eltern draußen vor der Schule. Auf einmal gesellt sich die Mutter meines chinesischen Mitschülers zu uns. Sie kennt mich, ich habe mal in ihrem Restaurant gekellnert, bis ich ganz schnell gemerkt habe, was für ein Knochenjob das ist. Ich finde, sie sollte mehr Geld verlangen, das Essen ist wirklich lecker. Natürlich nichts Authentisches, aber das will hier ja eh niemand probieren. Es ist das größte und schönste Restaurant, das ich kenne. Es gibt sogar Livemusik. Aber aus irgendeinem Grund sind Deutsche bereit, 30€ für Pasta auszugeben, nicht aber für Chinanudeln.

Wie sie uns in dem Meer aus Familien ausfindig gemacht hat, ist mir ein Rätsel. Aber sie stellt sich neben meine Mama, winkt ihren Sohn heran und bittet jemanden, ein Foto von uns vier zu machen. In dem Moment als die Kamera aufblitzt, sind wir eine Insel gegen den Strom. Sie in ihrem roten Kleid, Mama in ihrer bestickten Seidenbluse. Wie sie ihre Kultur zur Schau tragen, kommt mir selbstverständlich vor, aber ich selbst traue mich das nicht. Das würde doch zu sehr auffallen, ich in einem engen Seidenkleid mit hohem Kragen. Was würden da nur wieder für Kommentare kommen?

Später am Abend sehe ich ein fremdes weißes Mädchen in genau so einem Kleid, das sich von Umstehenden bewundern lässt. Muss schön sein, wenn man sich eine fremde Kultur wie ein Kostüm überstreifen kann, aber keine der negativen Assoziationen hervorruft.

2018
Ich fange ein Sinologiestudium an, irgendwie lässt mich dieser Teil von mir doch nicht los. Wir sind nicht viele in meinem Jahrgang, klar, es handelt sich um ein Orchideenfach. Für mich sind es trotzdem mehr Leute denn je, die sich für China interessieren. Ich wusste nicht, dass es Menschen gibt, die in China mehr als nur politische Kontroversen sehen, mehr als ein rotgelbes Spiegel-Cover unter einer reißerischen Headline. Aber wir haben Kurse in Sprache und Kultur, und Lehrkräfte, die aussehen wie ich. Zum ersten Mal lerne ich im deutschen Bildungssystem etwas über chinesische Geschichte. Ich lerne, dass das Land, aus dem mein Papa kommt, 1898 bis 1919 eine Kolonie in dem Land hatte, aus dem meine Mama kommt. Wie, dachtet ihr, ist Tsingtao Bier entstanden?

2019
Ich sitze meiner besten Freundin im Café gegenüber. Wir kennen uns seit der Schulzeit, sie ist mein Anker. Vergeblich versuche ich ihr zu klarzumachen, was mich am bevorstehenden Auslandssemester in Shanghai so nervös macht. Wie wird es sich wohl anfühlen, zum ersten Mal seit ich denken kann nicht nur zu Besuch in meinem Geburtsland zu sein? In einer Menschenmenge unterzugehen, mich nahtlos einzufügen? Ich erkläre ihr, dass ich versuche, mich nicht mehr als halb Deutsch, halb Chinesisch zu bezeichnen. Ich will endlich ein Ganzes sein. Ich bin Deutsch und ich bin auch Chinesisch. „Aber du bist doch Deutsche, du hast die deutsche Staatsbürgerschaft,“ antwortet sie mit großen Augen. Fast muss ich lachen. Dass sie das jetzt erwidert, ist natürlich mein Verdienst. Jahrelang habe ich mich bemüht, anderen dieses Narrativ über mich einzutrichtern. Wie konnte ich jemals glauben, dass dieses Stück Papier mich ausmacht?


2022
Demnächst fange ich mein Masterstudium an. Ich habe den Fachbereich gewechselt, bin wieder in überwiegend weißen Räumen unterwegs. In unserer WhatsApp Gruppe stellt sich eine Person mit demselben deutschen Vornamen vor wie ich und fragt scherzhaft, wie lange es wohl dauert, bis wir verwechselt werden. Nach kurzem Zögern tippe ich: „Wenn ihr euch die Zeit nehmt, die Aussprache zu lernen, könnt ihr mich auch mit meinem chinesischen Zweitnamen ansprechen.“

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über das vergessen und erinnern

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Aus Zärtlichkeit und Zorn