Aus Zärtlichkeit und Zorn

Autorin: Zhu

Illustratorin: Renjie

TW: Rassismus, Sexismus, Mord


Mosaiksteine aus der Gleichzeitigkeit der Dinge, zwischen politischer Selbstorganisation und Zugehörigkeit. 1,5 Jahre, komprimiert auf diese Sätze, in hoher Dichte wie in einem Schnellkochtopf. Eingebettet in einen viel größeren Kampf.


An einem Mittwochabend Ende März gehe ich eine belebte Straße in Berlin entlang und die Frühlingssonne verabschiedet sich langsam hinter den Häusern. Es ist noch hell draußen und vereinzelt rieche ich die Blüten, die hier schon blühen. Zum ersten Mal treffe ich Menschen mit denen ich bisher nur über Glasfaser verbunden war. Um den großen, runden, braun-marmorierten Tisch sitzen einige Mitglieder von ZhongDe und zwei weitere Personen, die ich über soziale Netzwerke kennengelernt habe. Unsere irgendwie bestehende und sich formende Beziehung zum Chinesisch-Deutsch-Sein brachte uns zusammen. Der Drehteller des Restaurants füllt sich nach und nach mit Speisen aus dem Norden Chinas und setzt sich in Bewegung - die weißen Porzellanschalen sind für alle erreichbar. Wir tauschen uns aus, erzählen uns Anekdoten und teilen unsere Ideen für zukünftige Projekte. Ein wohliges Gefühl macht sich in meinem Bauch breit und das liegt nicht nur an dem heißen Ingwertee, von dem ich nippe. Immer mehr Menschen kommen in das Restaurant: Gesprächsfetzen schweben durch den Raum, Schüsseln klappern und es wird herzlich gelacht. Der Drehteller wird erneut angeschoben und ich zoome heraus.


crescendo
Es ist der 24. März 2022 und noch vor zwei Jahren kannte ich niemanden von diesen Personen. An den Zeitpunkt meiner ersten Berührungspunkte zu dieser Gruppe, die ich zunächst lässig als “Asiatisch-Deutsche Community” bezeichnen werde, erinnere ich mich schmerzhaft genau. Es war knapp ein Jahr zuvor, am 16. März 2021, dem Tag des Attentats in Atlanta. In den USA arbeiteten an dem Tag sechs Frauen mit Bezug zu Korea und China in drei verschiedenen Massagesalons, die mehrere Kilometer voneinander entfernt sind. Sie, Hyun Jung Grant (51), Soon Chung Park (74), Suncha Kim (69), Yong Ae Yue (63), Xiaojie Tan (49) und Daoyou Feng (44) und zwei weiße Kund*innen, Delaina Yaun (33) und Paul Andre Michels (54), wurden von einem weißen Mann, der die drei Orte mit seinem Auto gezielt abfuhr, erschossen. Es war ein rassistischer, sexistischer Mord. Das war klar, aber für wen? Im Netz recherchierte ich nach Infos und Anhaltspunkten: würden Polizist*innen und Journalist*innen diesen Amoklauf als rassistischen, sexistischen Mord benennen, oder ihn wieder mit dem psychischen Zustand des Täters relativieren? Erst einige Momente später konnte ich mir über die Arbeitsverhältnisse und in dem Zuge über Klassismus Gedanken machen [1].
Wonach mein Unterbewusstsein in dem Moment auch suchte, waren Verständnis, Nähe und Geborgenheit. Ich wollte von einer geliebten Person gehalten werden. Das war ein Angriff auf Menschen, die wie meine Tanten aussahen und einfach ihrer Arbeit nachgingen. Nach ein paar Klicks blieb ich bei der Ankündigung eines digitalen Treffens hängen - anlässlich des Attentats von und für Menschen in Deutschland mit Bezug zu Asien. Ich klickte auf den Link und fand neben mir in meinem Wohnzimmer knapp 80 andere Personen, die offenbar vergleichbare Gefühle und Bedürfnisse hatten. Unbekannte Gesichter und schwarze Kacheln blickten mir entgegen. Hier und da poppten quick reactions auf, die Zustimmung und Zuspruch symbolisierten. Obwohl ich all diese Menschen nicht kannte, verspürte ich über den Display meines Laptops hinaus, diese Art Vertrauen, die Unbekannte umgibt, wenn sie gemeinsam trauern oder gemeinsam im Widerstand sind. Ich wusste mich auf eine Weise verstanden, die mir neu war. Die gleichen Sätze wurden in diesem digitalen Raum viel mehr verstanden als in einem Telefonat mit einer damaligen, sehr engen Vertrauensperson. Mein Schmerz und meine Wut wurden an der anderen Hörmuschel nicht anerkannt und die Verbindung wurde unterbrochen – zwischen “he had a bad day” und “Stell dich nicht so an” lagen auf einmal nicht mehr so viele Kilometer wie zwischen den USA und Deutschland.


Obwohl ich als Kind schon intuitiv verstanden hatte, dass ich diese und jene Erfahrungen machte, weil ich “eben so aussehe” oder “weil wir das eben essen”, ist es fast so, als hätte ich eine Erlaubnis von außen gebraucht. Eine Genehmigung, um Erfahrungen als rassistisch benennen zu dürfen. Eine unbewusste Stimme in meinem Kopf, die die immer gleichen Sätze des Model Minority-Mythos [2] hartnäckig abspielte, sprach sie mir früher ab. Mit meinen Eltern habe ich nur selten über rassistische Vorfälle gesprochen. Und wenn doch, gingen meine Fragen und Sorgen oft in Stille unter. Meine leise Wut nahm ich entmutigt mit in mein Kinderzimmer. Erst mit den Jahren konnte ich verstehen, dass die gesellschaftlichen Positionen meines Vaters und von mir unterschiedlich waren und sind, so verschieden wie es auch unsere Überlebensstrategien und Bedürfnisse sind. Als Teil der second generation of migration, kann ich nur so sprechen, weil die Generation vor mir eine ganz andere Lebensrealität gelebt hat und noch immer lebt. “我知道,Pa, 我知道”, denke ich sanft zu mir, obwohl die Zeichen vielleicht nicht das meinen, was ich eigentlich sagen will. Vom Lesen und Markieren in etlichen Büchern, vom Zuhören und im Austausch mit anderen Asiatisch-Deutschen und BIPoC bin ich nun auf Deutsch und Englisch klarer in meinen Worten. Synchron zu Hansol’s Stimme rufe ich

“Shout konichiwa and I swear one more time

and I will lose my shit and fuck you up” [3].

unweigerlich unbequem
Mit der Zeit nach dem Attentat erschlossen sich mir nach und nach Kanäle der “Asiatisch-Deutschen Community”. Das alles war so neu und aufregend: zwischen ernsten Gesprächen und digitalen Hangouts fanden gute Rezepte und nicht weniger wichtige memes und rants Platz. Ähnlich wie in den USA bestand auch hier das Bedürfnis, noch mehr zu tun. Wir fanden uns in einer politischen Kleingruppe zusammen und die gemeinsame Arbeit zeigte mir, wie “wir”, wer auch immer dieses “wir” sein kann und sein möchte, uns gemeinsam halten und uns organisieren können. Rein technisch ist es klar, dass man durch Organisation etwas bewegen kann. Die eigenen Erfahrungen sichtbar zu machen und sich nicht einfach einer bereits bestehenden Gruppe anschließen zu können, hat viel mit uns gemacht. Mehr als ein Jahr später begegnete ich in einer Lesung zum Thema migrantischer Feminismus einer der Personen, die in dem Buch mitgeschrieben hat. Sie ist eine Generation älter als ich, hat eine andere Migrationsgeschichte und war schon im letzten Jahr auf uns aufmerksam geworden. Sie sprach mir stellvertretend Mut zu. Wir sollen weitermachen.


Während meiner Recherche zum Thema Rassismus gegen ost-/südost-/zentral-asiatisch gelesene Menschen, suche ich nach Zahlen und Statistiken – eine Sprache, an die das bürokratische Deutschland glaubt. Als ließen sich die Wunden des kollektiven Gedächtnisses mit Balkendiagrammen bandagieren. Und doch sind diese statistischen Erhebungen wichtig, um Rassismus für alle sichtbar zu machen. Mittlerweile gibt es viele Inhalte (Texte, Podcasts, usw.), die u.a. kostenlos zur Verfügung stehen, um sich dem Thema anzunähern. Es gibt Workshops, Veranstaltungen zum Vernetzen und zum gemeinsamen Heilen. Es werden Gedenkveranstaltungen organisiert [4], um auf anti-asiatischen Rassismus aufmerksam zu machen und die Opfer nicht zu vergessen. Der Versuch, die starren Strukturen aufzubrechen, ist unweigerlich anstrengend und erschöpfend. Für viele ist es ein ehrenamtlicher Dauerlauf, bei dem wir nur langsam vorankommen. Du willst so schnell wie möglich im Ziel ankommen, angetrieben von Wut und Hoffnung, aber du bist allen Witterungen ausgesetzt und kannst die hohe Geschwindigkeit auf Dauer einfach nicht halten.

Die Räume, in denen wir uns bewegen und sprechen, werden uns nicht geschenkt. Wir erschaffen und erkämpfen sie uns selbst. Räume, die gehalten werden müssen. Manche vom Sofa aus, andere auf der Straße. Räume, die als Störung und Bedrohung wahrgenommen werden. “Chinesen sind doch sonst so still und zurückhaltend..”, klingt das argwöhnische Grummeln der Dominanzgesellschaft. Anti-Asiatischer Rassismus begegnet uns überall: im Job, beim Einkaufen, in unseren Beziehungen. Nicht immer lässt es die Situation zu, darauf aufmerksam zu machen. Menschen aktiv auf anti-asiatisch-rassistische Handlungen hinzuweisen geht mit ständiger Beweisführung einher und auch der Abwägung, ob eine Situation eskalieren könnte. Es gäbe keinen anti-asiatischen Rassismus… Sie hätten auch unangenehme Blicke als Weiße in einem nicht-zentraleuropäischen Land einstecken müssen, er habe das doch gar nicht so gemeint... mit white tears koche ich meinen Reis.


In politischen Kontexten bzgl. anti-Asiatischem Rassismus arbeite ich meist mit FLINTA*-Personen zusammen. Wir sind unbequem, eine Irritation. Weiblich gelesene von uns passen mit dem Laut-Sein nicht in die Schablone der devoten, unterwürfigen “asiatischen” Frau, der zarten Lotusblüte [5]. Wir stimmen nicht mit dem Bild einer Pornokategorie überein. Abends sitze ich auf dem Boden in meinem Schlafzimmer vorm Spiegel und betrachte mein Gesicht. Als ich noch ein Kind war, konnte man mir deutlicher ansehen, dass ein Teil meiner Geschichte in Ostasien geschrieben wurde. Heute trage ich nach wie vor meine Naturhaarfarbe, meine Augen und meine Nase haben sich jedoch etwas verändert. Aus dem Blickwinkel mancher sogar so sehr, dass meine Wangen vor lauter Peinlichkeit und Unsicherheit in der Farbe von 红包 leuchten, wenn ich mich vor Chines*innen erst als Chinesisch-Deutsch erklären muss. Das Nicht-Erkannt-Werden und ein stilles Nicht-Anerkannt-Werden schmecken säuerlich-bitter. Ich schaue in den Spiegel und meine Augen und das, was dahinter liegt, verraten mir, dass ich nicht richtig chinesisch und auch nicht richtig deutsch bin. Woher nehme ich mir also eigentlich das Recht, für Teile der Chinesisch-Deutschen Community zu sprechen? Wie Chinesisch muss ich sein, um als Chinesisch-Deutsche sprechen zu dürfen und für wen kann ich sprechen? Was weiß ich über Chinesisch-Deutsche Geschichte und Kultur? Und ist es überhaupt wichtig, dass ich hier schreibe oder höre ich mich nur gerne selbst reden? Die Fragezeichen peitschen wie Windböen im Schlafzimmer umher und wirbeln mich durch die Luft. Diesen inneren Dialog führe ich nicht zum ersten Mal und mir wird schwindelig. Plötzlich leuchtet mein Handy auf und die umherfliegenden Fragen kommen abrupt zum Stehen. “Ich liebe asiatische Frauen”, schreibt er im Chat einer Dating-App und mit einem dumpfen Geräusch fällt mein Gedankenkörper zu Boden. Mein Magen verkrampft sich. Dass das Attentat von Atlanta rassistisch und sexisitisch motiviert war, bedurfte für mich keine Einordnung von Journalist*innen. Das war genauso klar wie der Grund, wieso ich wegen meines Nachnamens nicht zu Wohnungsbesichtigungen eingeladen werde. Die Fragezeichen werden ganz klein, wenn ich auf offener Straße beschimpft werde oder Macker mir Rassismus als Komplimente verkaufen wollen. Und so bewege ich mich weiter zwischen white passing [6] und migrantisch situiertem Wissen.


Mit der Zeit sind die Berichterstattung und die kurzzeitigen Peaks der Empörungssensation über anti-Asiatischen Rassismus in Deutschland, der aufgrund des Narrativs während der Anfänge der Pandemie extremer wurde, zurückgegangen oder gar nicht mehr existent. Rassistische Übergriffe geschehen jedoch Tag für Tag weiter. Die Überwachungskamera US-amerikanischer Geschäfte wird zur stummen Zeugin, wie vor allem alte Menschen, die vorher unsichtbar gemacht wurden, auf einmal Zielscheibe für Fäuste, Füße oder Messer sind. Das Video zeigt eine alte Person. Sie trägt ein buntes Outfit und in der Hand hält sie eine vollgepackte Plastiktüte mit Einkäufen. Vielleicht denkt sie an das Essen, das sie gleich für ihre Enkelkinder kochen wird. Vielleicht überlegt sie, ob sie ihrer Nachbarin noch etwas mitbringen kann. Dieser Mensch ist vielleicht A’bu, Mutter, Freundin. Sie hat sicherlich viele Geschichten zu erzählen und besondere Tipps für die Kombination von Gewürzen. Dann wird sie brutal angegriffen. Die Einkäufe fliegen durch die Luft und obwohl das Video nur eine nachträglich eingefügte Tonspur mit Kommentar hat, höre ich ihren Jadearmreif auf den Boden aufschlagen. Vermutlich sehen die wenigsten hier in Deutschland diese Bilder. Und wenn doch, ist es die leichtere Option, das Problem auf die USA zu beschränken, die Geschichte in Deutschland zu vergessen und die eigene Verantwortung von sich wegzuschieben. Über die sogenannte “Chinesen-Aktion” während der NS-Zeit, beispielsweise, lernte ich erst spät, und noch viel zu wenig weiß ich über die deutsche Kolonialgeschichte in China.


Raum für Fragen und lautes Denken suche ich bei Menschen aus der Community. Aber wer oder was ist das denn nun… diese Community? Denn so lässig, wie ich “Asiatisch-Deutsch” zu Beginn für einen bestimmten Kontext eingeworfen habe, so komplex ist die Definition des Wortes und macht als Oberbegriff diese riesige Diversität, dieses große Geschenk, unsichtbar. Community ist ein Ort, der Zugehörigkeit geben und aber auch durch Ausgrenzung Schmerz zufügen kann. In einem Raum, in dem viele Menschen zusammenkommen, sind auch unweigerlich viele Dinge neben all den Gemeinsamkeiten sehr unterschiedlich. Es besteht das Potential, zu verletzen und verletzt zu werden. Das Konstrukt bekommt Risse, wenn Othering und Colorism innerhalb der Gruppe oder gegen andere BIPoC stattfindet, wie z.B. Rassismus gegen Schwarze Menschen. Oder wenn Menschen Diskriminierung aufgrund ihres Genders oder ihrer Sexualität erfahren. Logisch, vergleichbare Breiten- und Längengrade in der Migrationsgeschichte der biologischen Familie sind nur ein Bruchteil dessen, was uns ausmacht [7]. Den Begriff werde ich in diesem Beitrag nicht weiter aufbohren. Für mich ist Community sehr fluide und ich bewege mich selbst in unterschiedlichen Räumen. Wir können aber gemeinsam in einen Teilraum davon blicken. In den letzten Monaten habe ich vor allem neue Beziehungen zu Menschen mit Bezug zu Ost- und Südostasien aufgebaut. Menschen mit Bezug zu Korea, Vietnam, Taiwan und den Philippinen. Menschen, mit denen ich politisch zusammen agiere und Privates teile. Und natürlich hatte ich das große Glück, über ZhongDe endlich Menschen kennenzulernen, die auch einen Chinesisch-Deutschen Teil in sich tragen. Leider wohnen die meisten von ihnen weiter weg, oder anders gesagt: ich wohne in der falschen Stadt. Das spontane Treffen zum Bubble Tea oder der gemeinsame Besuch einer Theatervorstellung fallen daher leider aus und es bleibt bei Selfies und GIFs.


Wir alle haben vielleicht ein anderes Verständnis von und unterschiedliche Erfahrungen mit diesem Chinesisch-Deutsch sein. Manche sprechen Mandarin fließend, andere bruchteilhaft, wieder andere einen Dialekt, andere fast kein Wort. Manche waren viele Jahre in China, sind dort aufgewachsen, andere haben in den Sommerferien ihre Verwandten dort besucht, wieder andere haben das Land bisher noch nicht betreten. Und wir alle sind dennoch durch die Suche nach Zugehörigkeit miteinander verbunden und dieser Vision, unseren Perspektiven Raum zu geben. Wir formen dieses Chinesisch-Deutsch Sein für uns selbst und miteinander. Dabei geht es nicht um einen ästhetischen Chic, nicht um ein Bestehen wie in einem Videospiel, in dem man Level für Level aufsteigt und nach erfüllter Quest endlich im Chinesisch-Deutsch Sein “ankommt”. Es geht um den Erhalt eines kulturellen Erbes, das in vielerlei Hinsicht noch aufgedeckt werden will. Oder von dem der Staub runter gepustet werden will wie von einer alten Vase. Und zugegeben: ein Vergleichen bleibt bei mir nicht aus. In mir existieren viele wiederkehrende Gedanken, die mit “ich sollte…” oder “ich hätte…” beginnen. Gedanken, die mich wie eine Versagerin fühlen lassen – Scham ist auch in diesem Teil meines Lebens eine alte Bekannte. Aber dennoch gehe ich in diese Gespräche rein und mache mich weiterhin verletzlich. Wir breiten unsere Geschichten voreinander aus, hören einander zu. Wir teilen unser Wissen miteinander: jede*r bringt die eigene Teekanne mit an den Tisch und wir schenken einander ein. Wir haben Freundinnenschaften geschlossen, die in sich selbst einen Gegenentwurf zum heteronormativen Ordnungsschema der Gesellschaft formulieren. Und meine Scham ist nun nicht mehr allein: tiefe Dankbarkeit und Intimität haben sich zu ihr gesellt.


respair

Gemeinsame Momente wie im chinesischen Restaurant sind für mich eine Art politischer Akt mit einem bittersüßen Beigeschmack: ein Akt der Desintegration, des am Leben-Erhaltens, das gemeinsame Auswählen der Gerichte nicht nur eine banale Notwendigkeit. Und der Eigentümer hat sich auch gefreut, dass wir da waren… behaupte ich jedenfalls. Die Community hat mir viele Momente des Halts und wunderbare Menschen in meinem Leben geschenkt. Diese neuen Begegnungen waren Balsam für alte und frische Wunden.
So romantisch das teilweise klingt, so anstrengend ist die Arbeit, um rassistische Strukturen aufzubrechen, eingebettet in so viele andere Kämpfe. Viele Menschen, die ich in der Zeit kennenlernen durfte, arbeiten für eine bessere Zukunft und nicht alle Betroffenen haben die Privilegien, Resilienz gegen diese Formen der Diskriminierung zu erschaffen. Und sollten sie auch nicht müssen. Politisch aktiv zu sein war nichts Neues, aber sich selbst und die eigenen Erfahrungen sichtbar zu machen, die von der Dominanzgesellschaft in Frage gestellt werden, war neu und erforderte eine ganz andere Energie. Ich möchte noch viel genauer zuhören, noch viel lauter sein und gleichzeitig noch viel mehr auf mich achten. Ich möchte von früheren Generationen und den Kämpfen Schwarzer Menschen lernen. Welche Rollen kann ich gut übernehmen, welche nicht? Was kann ich geben und wie begegnen wir uns? Wer umarmt uns und unsere Verletzlichkeit? Wie können wir besser mit Fehlern umgehen und uns ausprobieren? Wer kann und möchte zu diesem “wir” gehören und wann ist diese Unterteilung nicht mehr relevant? Wie lerne ich über Themen, über die nicht gesprochen wird? Wer hat welche Bedürfnisse und wie schaffen wir zugängliche Communities? Räume, die nicht durch akademisierte Sprache mit Barrieren umzäunt sind? Welche Formen kann gelebte Solidarität in der Praxis annehmen? Was bedarf es für Bündnisse?


Viele sind in Bewegung und bringen in Bewegung. Die letzten Monate waren viel, es reihten sich immer neue Geschehnisse, Fragen, Arbeit, Wachstumsschmerzen, Brüche und Entwicklungen aneinander – mit einer Intensität, die vermutlich viel mehr Zeit zum Verdauen benötigt hätte. Von irgendwoher höre ich einen Gesang im Restaurant: ein Geburtstagslied, das mich wieder in die Gegenwart zieht, und ich blicke in die Gesichter am Tisch. Gemeinsam zu essen hat für mich eine bestimmte Art der Intimität. Ich möchte teilen, tauschen und geben. Ich freue mich über Einladungen zum gemeinsamen Kimchi kochen und Tabbouleh. Und solange noch nicht alle an alle Schüsseln rankommen, machen wir weiter: wir bleiben laut und unbequem und kritisch.

Fußnoten:


[1] https://heimatkunde.boell.de/de/2021/04/01/anti-asiatischer-rassismus-atlanta-attentat-deutschland

[2] https://www.korientation.de/wenn-selbst-der-rassismus-unsichtbar-bleibt/
[3] https://shorelineband.com/
[4] Beispiel: https://www.korientation.de/resist-remember-unite-gedenken-phan-van-toan/

[5] https://www.jetzt.de/glotzen/the-female-gaze-folge-5-die-rassistisch-sexistische-darstellung-von-ostasiatischen-frauen
[6] https://missy-magazine.de/blog/2022/01/18/hae-was-heisst-denn-white-passing/
[7] ZhongDe Vol. 2

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