Wenn es nicht nur mir passiert

Autorin: Linda L.

Illustratorin: Maike Siu-Wan Storf

Inspiriert wurde diese Illustration von einem film still aus “The Taste of Tea” (2004) von Katsuhito Ishii mit einer kleinen Hommage an Shaun Tans “Ein Neues Land”.

TW: Rassismus

„Ich war auf dem Weg zum Penny“, sagte meine Schwester am Telefon, „und dann hat dieser Mann ‘Nihao’ aus seinem stehenden Auto gerufen. Ich hatte Kopfhörer auf und mir die Kapuze über den Kopf gezogen, damit mich niemand anspricht. Nach zwei Wochen Urlaub komme ich zurück und dachte, jetzt bin ich wieder in Deutschland.“


Ich spüre, wie sich mein Magen vor Zorn zusammenzieht und sich tiefe Furchen in meine Stirn graben: es passiert ihr auch. Gleichzeitig fühlt es sich an, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Meine Schwester wird auch auf der Straße mit solchen Zurufen konfrontiert. Warum dachte ich, sie bliebe davon verschont?


Wenn es mir passiert, auf der Straße, im Zug, in der Straßenbahn, dann sprechen mich Menschen im Vorübergehen an, oft junge oder Männer mittleren Alters, oder sie rufen etwas auf offener Straße hinterher, als Gruppe oder vereinzelt, ob weiß oder PoC. Manchmal sehe ich einen herausfordernden Blick, wenn sie sich über die Sprache lustig machen: was ich denn dagegen ausrichten wolle. Oder es gibt einen heftigen Schlag gegen die Straßenbahn, dort wo ich am Fenster sitze, und ich höre ein lautes „Ching Chang Chong“, bevor die Bahn an dem dumpfen Lachen der Jugendlichen vorüberfährt. Und dann ist da diese Scham, die darauf folgt. Die Scham darüber, dass sie mich für jemanden halten, die sie auf offener Straße anpöbeln dürfen. Ignoriere ich sie, weil der Moment schon vorbei zu sein scheint oder um ihnen diese Genugtuung einer hilflosen Reaktion zu verweigern, schäme ich mich im Nachhinein nur noch stärker. Wenn ich einen zurechtgelegten Spruch hinterherschiebe anstatt Zähne knirschend vorbeizulaufen, bleibt das Gefühl erniedrigt worden zu sein trotzdem in meinem Körper stecken. Als gäbe es keine zufriedenstellende Lösung für mich, außer mich so schnell wie möglich davon abzulenken, damit solche Begegnungen mir weniger nachhängen.


Aber wenn meine Schwester erzählt was ihr zugestoßen ist, geht es mir plötzlich viel näher. Dass sie so missachtet wurde, macht, dass ich aufspringen und den Unbekannten anschreien möchte. In mir staut sich Wut auf, dass sie solche Situationen erleben muss. Und damit meine ich: auf offener Straße beleidigt werden. Erst jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen, dass es das ist. Niemand will in der Öffentlichkeit angepöbelt werden. In diesem Moment will ich das – für alle Menschen sichtbar – auch für meine Schwester geltend machen.


Es ist erstaunlich, wie sehr es mich überrascht, dass meine Schwester ostasiatisch gelesen wird. Ich weiß noch, wie wir uns auf einem Familienausflug in den Kaiserstuhl einen Spaß daraus machten, so viele Sprachen wie möglich in unsere Sätze zu packen: damit uns der Junge am benachbarten Tisch mit noch größeren Augen anstarren konnte. Wie es eine schöne kleine Anekdote wurde, dass die Bedienung im selben Urlaub aus der Küche gehastet kam, um auf Englisch zu fragen, ob es denn wirklich eine kalte Wurstplatte (unser Vater liebt Wurst) sein sollte, nachdem wir unsere Bestellungen auf Deutsch aufgegeben hatten. Es ist wie eine Rückversicherung, wenn wir uns belustigte Blicke in diesen Momenten zuwerfen, in denen uns Leute falsch zuordnen: dass wir immer noch wir sind. Für mich ist sie meine Schwester, in all ihrer Individualität und nicht nur ein Mensch, der durch die eine Eigenschaft seiner sichtbaren Herkunft bestimmt wird.


Diese Selbstvergewisserung gelingt mir nicht so leicht, wenn ich alleine unterwegs bin und die Situationen unerwartet kommen, gegen die ich doch eigentlich gewappnet sein will. Wenn ich mich im Zug nach einem freien Platz erkunde und das angesprochene Paar aus dem Deutschen ins Englische wechselt, um mir mit einem barschen „No, here reserved“ zu entgegnen, fühle ich mich ausgegrenzt aus einer Gesellschaft, in der ich mich am meisten beheimatet fühle. Klar kann ich auf Englisch antworten, no worries, aber ist mein Deutsch nicht akzentfrei genug, dass man denkt, ich würde die Sprache nicht beherrschen? Denke ich und stehe auf einmal auf wackeligen Beinen mitten in dieser Fremdzuschreibung.


So ähnlich fühlt sich die Hilflosigkeit an, wenn ich mir eingestehen muss, dass ich meine Schwester nicht davor schützen kann, eben solche Erfahrungen zu machen. Ich kann mich nicht für sie wehren, wenn ihr im Gespräch unterschwellige Ausgrenzungen Unbehagen bereiten. Und nicht, wenn sie auf den Straßen einer anderen deutschen Stadt ihrem Tag nachgeht und sich rassistisches Zeug anhören muss. Ich bin entrüstet, aber vor allem beklemmt es mich, dass es nicht nur mir passiert.


Ich weiß gar nicht, ob sie möchte, dass ich sie vor irgendetwas bewahre. Nur, allmählich wird es mir unangenehm, dass ich bisher solche Vorkommnisse nur auf mich selbst bezogen habe. Dass ich dachte, es sei mein persönliches Problem, mit dem ich fertig werden muss. Was immer noch stimmt. Aber dass es auch sie trifft, und noch viele andere, verändert meine Bezugspunkte. Es geht nicht mehr nur darum, dass ich mich so verhalte, wie es sich für mich als Einzelne gut anfühlt, sondern da ist noch diese Verantwortung mich gegen rassistisches Verhalten auszusprechen, damit es auch andere weniger trifft. Nicht als Einzelperson dafür zu kämpfen, als Individuum wahrgenommen zu werden, sondern für die Gruppe, als deren Teil man angegriffen wird. Klingt irgendwie machbarer. Wir werden sehen.

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Aus Zärtlichkeit und Zorn

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