Über das Feiern
Autorin: Maike Siu-Wuan Storf
Über das Feiern, oder wie ich laut darüber nachdenke.
Ich möchte dieses Jahr das Chinesische Neujahrsfest oder den Beginn des Mondjahres feiern. Ich habe dieses Fest noch nie gefeiert und so finde ich mich auf Pinterest und in verschiedenen Artikeln und Büchern wieder um etwas über die Bräuche und Rituale zu lernen. Das ist ein Drahtseilakt. Denn das ist schon irgendwie eine Form der kulturellen Aneignung. Schließlich bin ich nicht in oder mit einer Kultur aufgewachsen, die das Chinesische Neujahrsfest feiert, und es hatte die letzten 40 Jahre meines Lebens kaum Bedeutung für mich. Wie ich auf diesem Drahtseil die Kurve bekomme, weiß ich noch nicht. Im Augenblick denke ich mich noch ins Schweben hinein.
Warum möchte ich feiern?
Ich bin in weitestem Sinne ohne Religion aufgewachsen. Klar, mit christlicher Prägung und ein paar Stunden evangelischem Religionsunterricht, den ich in meinen ersten Grundschuljahren besucht habe. Ich kenne daher die meisten biblischen Geschichten ganz gut und kann meinem Kind auf die Frage, wo der Nikolaus wohnt, zumindest antworten, dass der Nikolaus ursprünglich aus Myra kommt, das in Vorderasien liegt und dem Gebiet der heutigen Türkei zugeordnet wird, was mit dem Nordpol, wo der Weihnachtsmann angeblich sein Postfach hat, nicht soviel zu tun hat. Ich bin mit den christlichen Feiertagen aufgewachsen und habe ohne spirituelle Anbindung einige Traditionen mehr oder weniger in meinen Jahresrhythmus aufgenommen. Natürlich haben das Feiern und wie ich feiere, nochmal eine größere Bedeutung bekommen, seit ich Mutter bin, weil ich mir durch mein Kind schon noch eine ganze Ecke mehr Gedanken darüber mache, in was für einer Kultur ich aufgewachsen bin und was für eine Kultur ich weitergebe.
Beispielsweise finde ich es seltsam, dass in einer Stadt wie Berlin, die ich im Vergleich zu süddeutschen Bundesländern als sehr säkularisiert wahrnehme, das Kitajahr trotzdem nach christlichen Feiertagen eingeteilt wird. Dass die Kitakinder Ostereier suchen, dass beim herbstlichen Lichterfest von St. Martin gesungen wird und eben jener Nikolaus aus Myra Schokolade verteilt, aber kein Zuckerfest gefeiert wird, obwohl ein Drittel der Erzieher*innen und Kinder Muslim*innen sind. Ich finde es absurd, dass unsere Gesellschaft eingeführt hat, Halloween und den Valentinstag zu feiern, während die Feste anderer Kulturen nur in den jeweiligen Communities oder im Privaten praktiziert werden. Es ist eine Praxis von Dominanzgesellschaften marginalisierten Gruppen den Raum und die Möglichkeiten der eigenen Rituale zu nehmen, zu verbieten oder zu überschreiben. Und so findet eine Abwertung oder Enteignung der kulturellen Identität statt. Diesem Prozess war meine Familie über mehrere Generationen ausgesetzt und an diesem Ende stehe ich mit maximaler kultureller Verwirrung. Mein Anhaltspunkt ist ausschließlich meine Intuition, ein moralischer und spiritueller Kompass, der auch launenhaft sein kann.
Ich bin in einem Haushalt groß geworden, der sich mit der Ausübungen von Feierritualen unfassbar schwer getan hat. Mein Vater - er hat bereits in meinem letzten Artikel als Stereotyp des weiß-deutschen Alman Erwähnung gefunden und ich habe mich an ihm mindestens genauso viel abarbeiten müssen wie an meiner Herkunftsgeschichte - hat keinen Sinn dafür und somit leider auch kein Verständnis. Feiertage sind für ihn bestenfalls Ruhetage. Feiern ist ein zu großer Aufwand.
Mein Vater hat auf seine Art mit seiner Kultur die Kultur meiner Mutter überschrieben. Er hat bestimmt, wie wir als Familie (nicht) gefeiert haben. Wenn ich darüber nachdenke, dann ist das so, als machte man den Bock zum Gärtner. Der, der es am schlechtesten kann, soll das Fest, und wie es gefeiert wird, austragen. Feiern wurde zu einer ungeliebten Verpflichtung.
Da stimmt etwas nicht. In meiner Wahrnehmung wurde am Ende an Freude gespart und das ist die größte Minusrechnung, die uns im Zusammenleben passieren konnte. Wie wir feiern, gehört auch zu der Frage, wie wir leben. Wenn wir Feiern als das Gegenkonzept von Arbeit denken (auch wenn mir durchaus klar ist, dass Feiern für Dienstleistende und Care Arbeitende mit viel Arbeit verbunden ist, die bestimmten Erwartungen entsprechen soll und oftmals nicht mit ausreichend Wertschätzung und Anerkennung vergütet wird), aber wenn wir Feiern als ein Gegenkonzept von Produktivität und Zielstreben denken, als ein Aushebeln des Werktages und als ein Rückbesinnen auf einen Zustand des Zusammenseins, dann gehören uns doch diese Momente, um uns gegenseitig als Menschen zu sehen und kennenzulernen.
Als Kind war ich für alles empfänglich, was eine gewisse Theatralik beinhaltet hat. Ich kann mich noch erinnern, dass ich unbedingt in den katholischen Religionsunterricht wechseln wollte, denn das bedeutete Karneval, aus bunten Kreppbändern Palmwedel zu basteln, um den Einzug Jesu in Jerusalem nachzuspielen, die dramatische Zuspitzung der zelebrierten Trauer an Karfreitag mit der Climax bestehend aus der Suche nach bunten Eiern, Geschenken und süßem Hefegebäck. Ich mochte auch, dass Weihnachten mit den Drei Königen ein Nachspiel hatte, dass der Besuch der verkleideten Kinder mit der Kreideschrift über der Tür dokumentiert wurde, auch wenn ich heute vom immer noch praktizierten Blackfacing und auch Brown- und Yellowfacing auf jeden Fall Abstand nehmen würde. Alles wurde inszeniert. Der Einsatz der Gefühle war etwas höher als bei den Protestanten, und das fand ich gut.
Es ist kein Wunder, dass ich beim Theater gelandet bin. Ich habe durchaus ein Ding dafür „falsche“ Gefühle mit Opulenz nachzustellen, um eine Geschichte zu erzählen, die verbindet. Erst kürzlich habe ich mit Zhu darüber gechattet, dass „Blade Runner“ für mich eine Parabel des 21. Jahrhunderts und über das Theater ist. Menschen können ihre Menschlichkeit nur über ihre Fähigkeit zu Mitgefühl nachweisen. Es gibt ein Religionsäquivalent, das über einen Mitfühlapparat praktiziert wird. Die Anhänger*innen dieser Religion sehen eine Art Film mit einem Propheten als Protagonisten, der leidend einen Berg besteigt, und üben sich so in Mitgefühl. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass der Prophet ein Schauspieler ist und der Film keine Dokumentation, sondern eine Inszenierung des gespielten Leidens ist und daraus folgt die Frage, inwiefern das resultierende Mitgefühl echt ist, wenn es durch „falsche“ Gefühle erzeugt wird. Christentum in a nutshell.
Eine weitere Narrative, die mich seit meiner Kindheit begleitet, ist, dass nur die Person feiern darf, die auch glaubt. Alle anderen wollten sich nur an Geschenken bereichern oder dem Konsum frönen und sind, ergo, schlechte Menschen.
Ich bin sicher keine Freundin von Kapitalismusfestspielen, aber ich störe mich auch an der misanthropischen Sicht auf das Schenken.
Ich glaube, dass wir Empathie und Miteinander zelebrieren müssen. Das Zelebrieren eine Art üben ist, dass es eine Form von Nahrung an Solidarität ist, auf die wir auch im Ernstfall zurückgreifen und so ist für mich auch das rituelle Schenken eine Form, das Geben zu praktizieren. Ob der besagte Bischof von Mira oder die Geschichte der Erfindung der Jiaozi, die Ursprünge der Tradition des Schenkens, liegt in einer Situation, in der die Schenkenden ein Notleiden wahrgenommen haben und es lindern wollten.
In einer unschuldigeren Welt würde ich von meinen Nachbar*innen zum Fastenbrechen im Ramadan eingeladen werden und bei Jom Kippur meine Gläser auswaschen. Ich würde bei Diwali Laternen aufs Wasser setzen und während Chanukka jeden Abend eine weitere Kerze anzünden, um an eine überwundene Not zu denken und an die die noch immer in Not sind. Ich würde am Dios de los Muertos mir zwar kein Totenkopfgesicht schminken und keinen Blumenkranz aufsetzen, aber ich würde meiner Toten gedenken. An Holi würde ich die Utopie, die Ordnung umzukehren, in Farbe tauchen und das hätte nichts mit der kommerzialisierten Version der Festival of Colours der Holi Concept GmbH zu tun. Ich wüsste mehr über die unterschiedlichsten Feiertage und die dazugehörigen Bräuche. Ich wüsste mehr über meine Mitmenschen. Vielleicht würde ich an Midsomar Blumen sammeln und nicht an Sale-Angebote eines Möbelkaufhauses erinnert werden. Bei der Wintersonnenwende würde ich um ein großes Feuer tanzen ohne den cringe von nationalromantischen Phantasien zu spüren. Zum Tag des Frauenkampfes stehe ich Seite an Seite dafür, dass ein gelebter intersektionaler Feminismus keine gesellschaftliche Unmöglichkeit ist. Ich würde am Tag der Arbeit allen Arbeitenden auf der Welt gedenken und mir wünschen, dass wir weniger mit Lohnarbeit als mit der Arbeit an uns Menschen beschäftigt sein können. Bei der Pride möchte ich mitlaufen ohne zu vergessen dass Stonewall ein Riot war und die nachfolgenden Feiern des Pride Months an vielen Stellen trans, non-binäre, inter- und asexuelle Menschen nicht mitgedacht haben, aber wir uns gegenseitig immer erinnern sollten, andere Menschen (mit) zu denken. Am Columbus Day möchte ich Herrschaftsstatuen umschubsen und neue Denkmäler bauen für alle Träumenden. Ich will einen größeren Tisch und keinen höheren Zaun.
Am Ende des Jahres würde ich einen riesigen Potlatsch veranstalten, denn die Idee einer Schenkökonomie, in der wir darüber nachdenken, wie wir uneigennützig schenken, anstatt zu gucken, wie wir ein größeres Stück vom Kuchen als die Person neben uns zu bekommen, gefällt mir.
Ich möchte das alles zelebrieren, um das Leben und das Gemeinsam Sein zu feiern und nicht die Unterschiede.
Ihr seht, ich bin wildentschlossen zu feiern.
Dazu kommt, dass die Pandemie das Feiern in ein anderes Licht gerückt hat. Wie ein Ebenezer Scrooge hat sie alles Dionysische, das Ausgelassene und das Exaltierte, alles was Spaß bereitet, eingeschränkt. Aber vielleicht müssen wir, wie wir neue Wege des gemeinsamen Nachdenkens und Kommunizierens finden müssen, neue Formen des Feierns finden. Hybride Identitäten und hybrides Feiern. Wie wir Gemeinsamkeit herstellen können, ohne unsolidarisch zu sein. Lasst den Geist des gestrigen Feierns, des gegenwärtigen Feierns und den Glückskeks von Geist des zukünftigen Feierns heraufbeschwören.
Ich möchte eine Kultur feiern, deren Zugang mir, durch die Wege, die meine Familie zurückgelegt hat, versagt worden ist. Ich konnte nichts vermissen, dass ich nicht kenne und trotzdem kann ich eine Sehnsucht nach etwas haben, dass ich noch nicht erfahren habe.
Ich möchte das Leben feiern. Ich möchte feiern, was ich überwunden habe und was auf mich zukommt. Ich möchte mit den Menschen und die Menschen feiern, die mir begegnen und die mein Leben bereichern.
Ich möchte meine Kultur neu definieren.
Sich zu Hause in einer Kultur zu fühlen, bedeutet für mich nicht, dass ich überall Buddhastatuen aufstelle oder mit austauschbaren Lifestyle-Elementen ein Lebensgefühl nachspiele. Aber gleichzeitig ist das Spiel ja auch eine Möglichkeit etwas Neues zu lernen. Ich möchte Rituale der gemeinsamen Wertschätzung finden, erfinden und ausüben. Und so wie ich jedes Jahr ein bisschen nachspiele, wie ich mir vorstelle, dass es schön wäre, wie man Weihnachten spielen könnte, versuche ich Neujahr zu spielen. Es ist ja leider nicht so, als wüsste ich in meiner bisherigen Sozialisation immer, was ich tue oder was zu tun wäre. Beim Spielen besteht die Möglichkeit das herauszufinden.
Wenn ich feiere, dann ist das auch ein Akt der Auflehnung gegen den Pietismus und die Almanspaßbremse, mit der ich 20 Jahre meines Lebens verbracht habe, und die sich darüber hinaus in meinem Hinterkopf festgesetzt hat, dass ich es nicht wert genug bin, um groß zu feiern. Weil mir immer noch Tränen in die Augen schießen, während ich darüber schreibe, dass das Minuskonto an Freude bis heute noch als Mangelerfahrung in mir nachwirkt.
Zwei Falsch machen noch kein Richtig, ist klar, vielleicht kriege ich nicht die Kurve und falle ins Bodenlose, in ein Kaninchenloch ohne das Fallnetz einer gefestigten kulturellen Identität. Vielleicht rettet mich auch ein guter Geist aus einem Paralleluniversum und ich finde einen Zustand reinen Herzens und reinen Glauben, der allwissend und gleichzeitig unschuldig ist. Ich möchte auf jeden Fall mehr Zeit in einem Zustand der Freude verbringen und ich möchte Freude teilen.
Mein Kind liebt das Feiern und ist ein passionierter Gastgeber. Dieser kleine Mensch, der ja quasi mein Herz ist, das frei herumläuft, ist auch eine Kompassnadel. Aufgrund von Coronavirus und unglücklichem Timing durfte er noch keine Geburtstagsparty austragen, obwohl er aufblüht, sobald er Zeit mit Freund*innen verbringen darf und diese Zeit von leckerem Essen, Musik, Tanzen und Spiel gerahmt ist. Deswegen darf er mitbestimmen, wie und wieviel wir feiern. Es ist jetzt schon zu erkennen, dass er definitiv viel besser feiern kann als ich.
An seinem zweiten Geburtstag verlangte mein Kind statt einem Stück seines Geburtstagskuchens nach einer Maultasche (mit zwei Kerzen) zum Frühstück - eine Teigtasche und eine kleine Anekdote, die ihm zumindest aus Sicht meiner Mutter, die bei jedem Reiskorn, das ihr Enkel mit Appetit isst, seine chinesische Genealogie für erwiesen sieht, die Legitimation erteilt, das Chinesische Neujahr zu feiern.
Wer wäre ich, ihm ein Fest mit Teigtaschen vorzuenthalten? Ein Fest, in dem Drachen und Löwen tanzen und die Ankunft eines Tigers gefeiert wird.
Die Zukunft könnte auch schön sein, sagt mein Glückskeks.