Vignetten

Autorin: Weina Zhao

Illustratorin: Feng Yitong

1

Meine Mutter behauptet wir wären jedes Jahr zu Chunjie nach China zurückgefahren. Warum kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern? Es gibt Fotos von mir mit zwei Töchtern eines deutschen Bekannten meines Vaters, es ist nachts, wir sind in dicke Wintermäntel eingepackt, im Hof unseres alten Hauses in der Nähe des Sommerpalasts versuchen wir gerade Böllerketten anzuzünden. Das muss wohl zu einem Neujahr gewesen sein.
(Ich frage mich allerdings, warum es von keinem anderen Chunjie Fotos gibt, wo doch meine Familie zu jeder Gelegenheit Fotos gemacht hat?)

2
Bei meiner Tante San‘r war immer am meisten los, eine Zeit lang haben sich dort alle Tanten, Onkeln und Cousins zum Mahjong spielen getroffen. Irgendwer hat mal gescherzt, dass wenn man ihre Wohnungstür aufmacht, gleich zwei herausfallen. 一开门儿,掉出两儿。Ich liebe diese Anekdote, kann mich aber nicht erinnern an einem dieser Abende selber dabei gewesen zu sein.


3
Ich kann mich auch an kein gemeinsames 年三十儿 mit Abu und Gonggong erinnern, wo wir doch die meiste Zeit verbracht haben, wenn wir in China waren. Vielleicht gab es auch keins, weil man ja das neue Jahr in der Vaterfamilie einläutet. Ob ich das als Kind auch schon gewusst habe? Warum war ich dann so entsetzt, als mir mein Vater vor ein paar Jahren gesagt hat, dass wir erst zu 初一 zu Gonggong können? War Gonggong an dem Abend dann ganz alleine? Ich kenne die Antwort, aber es tut zu weh, wenn ich diesen Satz nicht als Frage formulieren würde.

4
September 2013, ich arbeite an der Projektentwicklungseinreichung für „A Tale of Two Families“[1] und schreibe die erste Beispielszene:

Es ist chinesisches Neujahr, die ganze Familie mit allen Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen kommen in der Wohnung der Großeltern väterlicherseits zusammen und es werden Jiaozi gemacht. Sobald die Dämmerung einsetzt hört man von draußen ununterbrochen Feuerwerksraketen und Böllerketten explodieren. Drinnen Herinnen wird gekocht, getratscht, geraucht und geknabbert, während im Fernsehen das Neujahrsprogramm läuft.

Sobald die Teigtaschen fertig sind, wird mit Baijiu, dem chinesischen Schnaps angestoßen und die Erwachsenen setzen sich zum Esstisch und die Kinder zum Couchtisch und verspeisen die noch dampfenden Köstlichkeiten. Nach dem Essen tausche ich zusammen mit meinem Vater die roten Papierspruchbänder vom vorigen Jahr, die die Haustür umrahmen, gegen neue aus. Die ersten brechen auch schon wieder auf und die Großeltern wollen sich langsam zurückziehen. Am Ende des Abends ist der ganze Wohnzimmerboden übersät mit bunten, glänzenden Zuckerlpapieren und Wassermelonenkernschalen. Sie werden fürs erste nicht weggeräumt, da es Unglück bringt in der Neujahrsnacht aufzukehren.

Eine Idealvorstellung von 年三十儿, die ich in dieser Form wahrscheinlich nur einmal erlebt habe. Wenn ich jetzt diese Zeilen lese, schießt mir der Begriff invented traditions in den Kopf: Traditionen, die als althergebracht präsentiert werden, um (nationale) Identitäten und Zusammenhalt zu bestärken. Das mit dem Austauschen von den 春联 hat mein Vater mit mir das Jahr zuvor zum ersten Mal gemacht und das mit dem Aufkehren war wahrscheinlich eh nie notwendig, weil meine kleinen Cousins und Cousinen schon ewig nicht mehr da waren. Und da es bei meiner Nainai und meinem Yeye fast jedes Mal, wenn wir zu Besuch kommen Jiaozi gibt, ist ihnen der festliche Charakter in unserer Familie auch ein bisschen abhandengekommen. (Aber zu Neujahr schmecken sie doch immer 更香。)


5
Februar 2013, ich bin am Flughafen Wien und hole meinen Freund ab, der die letzten Monate beruflich in Peking war. Ich freue mich ihn wiederzusehen, doch gleichzeitig bin ich traurig, dass ich nicht mit meiner restlichen Familie Chunjie in Peking feiern kann. Er fragt mich verwundert, seit wann mir das Fest so viel bedeutet und ich kann es ihm nicht wirklich beantworten.


6
回家过年。Peking hat sich für mich immer wie Zuhause angefühlt, aber wann immer ich zu Chunjie zurückfahre, ist die Stadt ausgestorben, weil alle zu ihren Familien im ganzen Land zurückkehren. Ich geistere dann durch die menschenleeren, eiskalten Straßen und werde vom Hotelpersonal des Wudaokou Home Inns bemitleidet, das mich mittlerweile schon gut kennt und wo ich gefühlt die einzige Gästin zu der Jahreszeit bin.

Einmal zu 年三十儿, als ich mich gerade fertig machte, um zu meinen Großeltern zu gehen, klopfte es an der Tür und ein Mitarbeiter stand mit einem Teller dampfender Jiaozi davor. Gerührt und verlegen versuchte ich zu erklären, dass ich eh nicht alleine bin und gleich zu meiner Familie Jiaozi essen gehe. Ob er es mir geglaubt hat, weiß ich nicht, die Jiaozi hat er auf jeden Fall dagelassen und ich war mehr als froh, dass ich sie zu meiner Familie mitnehmen konnte.

7
Februar 2018 & 2019
Beide Jahre hatte ich nicht vor zu Chunjie nach Peking zu fahren, da ich nur wenige Monate davor oder danach dort war. Schlussendlich war ich doch, weil im ersten Jahr Gonggong und im zweiten Jahr Yeye verstorben ist.

8
本命年。Heuer jährt sich das Tigerjahr seit meiner Geburt zum dritten Mal. Angeblich muss man in seinem eigenen Tierkreiszeichenjahr besonders gut aufpassen, ein roter Gürtel soll dabei helfen das Übel abzuwehren. Pete sagt, lasst uns doch zu Neujahr gemeinsam ein fettes Essen machen. Ich bin voll dafür.

9
Viel habe ich mich in den letzten Jahren mit dem Wort 家 beschäftigt, das sowohl Familie, als auch Zuhause bedeutet. Vielleicht weil es mich nicht loslässt, dass meine Familie und mein Zuhause nicht am gleichen Ort sind und dadurch eine kleine Lücke entsteht, die sich einfach nicht füllen lässt. Gerade zu Neujahr scheint 家 noch gewichtiger zu werden. Ich weiß, wie privilegiert ich bin, so oft zu meiner Familie nach China fahren zu können und doch ist diese Lücke auch dort ein stetiger Begleiter.

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Über das Feiern