Neujahr: Ein Fest in Zeiten von Überfluss
Autorin: Li Cheng
In meiner Kindheit war das chinesische Neujahrsfest nie ein großes Thema. In der Familie sagten wir uns 新年快乐 (Frohes Neujahr), kochten vielleicht ein oder zwei Gerichte mehr als üblich, und schauten 春晚, die chinesische Neujahrsshow. Manchmal fuhren wir zu Freund*innen, wo viel gegessen und getrunken wurde. Doch ich hatte nie wirklich begriffen, welch große Bedeutung diesem Fest inneliegt. Deshalb wollte ich von meinen Eltern mehr darüber lernen, wie sie in ihrer Kindheit in China das Neujahr verbracht haben. Daraus wurde ein Gespräch über Essen, Tradition, und die Bedeutung von einem Fest in Zeiten des Überflusses an Waren, jedoch Mangel an Zeit.
Das Essen war schon immer ein zentraler Bestandteil des Neujahrsfestes. Zu den traditionellen Speisen gehören nian gao (Klebreiskuchen), yu (Fisch), tang yuan (süße, mit schwarzer Sesampaste gefüllte Reisbällchen), und jiao zi (Teigtaschen). Jedes dieser Gerichte ist mit einer Symbolik verbunden, genauer gesagt mit Sprichwörtern. So heißt es zum Beispiel 年年高升 (nian nian gao sheng), was in etwa bedeutet, steige von Jahr zu Jahr zu größeren Höhen auf. Weiterhin heißt es 年年有余 (nian nian you yu), von Jahr zu Jahr im Überfluss leben, und 团圆 (tuan yuan), was so viel bedeutet wie "sich versammeln", ähnlich dem Klang von tang yuan. Der Verzehr dieser Gerichte während des Neujahrsfestes soll also Glück bringen.
Das Neujahr wird mit weiteren Traditionen eingeleitet. So werden zum Beispiel rote Banner mit Schriftzügen vor der Haustür aufgehängt und die Kinder erhalten Geldgeschenke von den Erwachsenen. All dies dient als Rahmen für das eigentlich Wichtigste: die Familienzusammenkunft. Von nah und weit her muss an diesem Tag die gesamte Familie beisammen sein. Heutzutage, da viele Menschen vom Land in die Städte ziehen, um Arbeit zu finden, müssen viele von ihnen weite Strecken zurücklegen, um ihre Familien zu sehen. Oft ist es auch die einzige Zeit im Jahr, in der die Familien vereint sind. Diese Neujahrswanderung wird chun yun (春运) genannt und ist jährlich die größte Völkerwanderung der Welt.
Der Unterschied zwischen dem Neujahrsfest, wie meine Eltern es kannten, und dem, wie wir es heute feiern, ist nicht nur ein geografischer und kultureller, sondern vor allem ein zeitlicher. Das China, das meine Eltern hinter sich ließen, als sie nach Deutschland auswanderten, das China der 1970-80er Jahre, war durch Knappheit und Rationierung geprägt, beispielsweise von Lebensmitteln und Kleidung. Das Neujahrsfest war die einzige Zeit, in der diese Knappheit temporär überwunden wurde. Es war der einzige Tag im Jahr an dem Kinder neue Kleidung bekamen und nach Lust und Laune essen konnten. Zu Neujahr gab es nicht nur Extra-Rationen, sondern die Menschen bereiteten sich auch einen Monat im Voraus auf das Fest vor, um in dieser Zeit einmal unbeschwert zelebrieren zu können.
Heutzutage muss man nicht auf Neujahr warten, um im Überfluss zu leben. Im Supermarkt sind die Schränke gefüllt, Kleidung kann man jederzeit kaufen, und Lebensmittel wie Obst und Fleisch sind längst keine Luxusgüter mehr. Dafür ist die Zeit jetzt knapp, rationiert, selten frei verfügbar. Das Neujahrsfest ist ein Symbol, einmal im Jahr im Überfluss zu leben. Aber es ist nicht mehr der Überfluss an Lebensmitteln und Gütern, sondern die selten gewordene Zeit mit der Familie, die das Neujahrsfest so besonders macht. Wenn meine Eltern an Neujahr denken, wird ihnen schmerzhaft bewusst, dass gewisse Aspekte ihrer Lebenserfahrung nun endgültig in der Vergangenheit liegen. Sie werden Neujahr nie wieder so erleben, wie sie es in ihrer Kindheit taten, nicht in Deutschland, aber auch nicht in China.