Jugendbuchrezension: Im Jahr des Affen

Autorin: Maike Siu-Wan Storf

Mit Beginn der Arbeit für ZhongDe war für mich schnell klar, dass ich für jede Ausgabe mindestens ein Buch für Kinder oder Jugendliche besprechen möchte. Das hat natürlich viel mit meinem persönlichen Interesse und ja auch Liebe für dieses Genre zu tun. Ich muss aber auch zugeben, dass mich ein Ehrgeiz gepackt hat, die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Denn ich selbst habe nicht genügend Bücher von Autor*innen und Illustrator*innen gelesen, die chinesische oder deutsch-asiatische Perspektiven erzählen. Die gleiche Sehnsucht nehme ich in meinem Umfeld wahr. Gerade was Bücher für Jugendliche oder junge Erwachsene angeht, gibt es eine Leerstelle, die zu Althergebrachtem oder den immer gleichen Titeln greifen lässt. Vermutlich, weil wir Erwachsene nicht genug Bücher für Jugendliche lesen, um uns gegenseitig zu informieren. Umso mehr freut es mich, dass ich bei meiner Suche für den nächsten Titel, den ich vorstellen möchte, auf „Im Jahr des Affen“ von Que Du Luu gestoßen bin.

Que Du Luu ist 1973 in Südvietnam (Saigon/Cholon) geboren und chinesischer Abstammung. Nach Ende des Vietnamkriegs flüchtet ihre Familie wie Millionen andere Boatpeople* über das Meer. Es folgt ein fast einjähriger Aufenthalt in einem thailändischen Flüchtlingslager bis zur Ausreise nach Deutschland. In Deutschland betreiben ihre Eltern ein China-Restaurant. Que Du Luu ist in Herford aufgewachsen und lebt in Bielefeld. Sie studierte Germanistik und Philosophie. Vor und während des Studiums arbeitete sie unter anderem in der Gastronomie, in der Pflege, Altenpflege und als Nachtwache in der Psychiatrie. Diese Informationen habe ich ihrer Webseite entnommen. Sie hat zahlreiche Preise und Förderstipendien erhalten und bereits zwei weitere Bücher („Totalschaden“, 2006 bei Reclam im Hardcover, 2008 bei dtv als Taschenbuch und „Vielleicht will ich alles“ 2011 bei Kiepenheuer und Witsch erschienen) geschrieben, als 2016 ihr erstes Jugendbuch mit dem Titel „Im Jahr des Affen“ herauskommt.

2016 ist ein Jahr des Affen - die Erzählung des Romans findet, soweit ich sie zeitlich verorten kann, Anfang der Neunziger Jahre statt. Die Prognose, dass das Jahr des Affen von Lebensfreude, Horizonterweiterung und dem Vorantreiben eigener Projekte geprägt ist, dass in der Liebe neue Erfahrungen gesammelt werden dürfen und im Beruf Improvisationstalent, Anpassungsfähigkeit und Ideenreichtum gefragt ist, dass Selbstvertrauen und Neugier selbst schüchterne Menschen fördern, sich mehr zu trauen - diese Prognose eilt der Handlung durch den Titel voraus. Der in die Erzählung eingeschriebene Soundtrack geht über „Tainted Love“ von Soft Cell zu Suzanne Vega, über Depeche Mode zu „Don’t Cry“ von Guns’n’Roses und weist so auch auf die frühen Neunziger Jahre hin.

Erzählt wird ein Sommer aus dem Leben der 16-jährigen Minh Thi. Kurz vor Beginn der Sommerferien bewegt sie sich durch die Straßen von Herford wie Holden Caulfield durch Manhattan. Und was atmosphärisch tatsächlich so anfängt wie die Geschichte eines weiblich und asiatisch gelesenen Fänger im Roggen in einer westdeutschen Kleinstadt wird nach Ablauf des ersten Tages gleich von der Realität eingeholt und eingefangen: Der Vater von Mini, wie Minh Thi von ihren weißen Freund*innen seit Kindergartentagen genannt wird, erleidet auf dem Nachhauseweg von der Arbeit in seinem China-Restaurant einen Herzinfarkt. Während Vater und Tochter zuvor nebeneinander her gelebt haben, der Vater im alltäglichen Geschäft im Restaurant und die Tochter zuhause meist bis spät sich selbst überlassen und in der Schule und ihrer Freizeit mit ihren beiden weiß-deutschen Schulfreundinnen einem möglichst angepassten Teenagerleben nachgehend, wird Mini ab diesem Moment in das Leben ihres Vaters hineingezogen. Das passiert zu einem Zeitpunkt, an dem sie lieber über Bela, den sie eben noch geküsst hat, nachdenken möchte, als darüber, wie es sich anfühlt, ihr Vater zu sein.

Neben der Sorge um den gesundheitlichen Zustand ihres Vaters und der Kommunikation mit dem Krankenhauspersonal, die sie übernehmen muss, ist sie gezwungen, das Tagesgeschäft im Restaurant am Laufen zu halten, die beiden chinesischen Mitarbeiter zu koordinieren und die Kundschaft zufriedenzustellen. Ein weiterer Faktor für die unfreiwillige Auseinandersetzung mit ihrer chinesischen Herkunft ist der Besuch ihres Onkels Wu, dem älteren Bruder des Vaters, der in Australien lebt und wie ein Deus Ex Machina in die Erzählung tritt, um das Leben von Bruder und Nichte in Deutschland zu inspizieren. In Australien ist Onkel Wu wesentlich besser in eine Chinesische Community integriert, pflegt Chinesische Traditionen und fordert dies von seinen Verwandten in Deutschland ebenfalls ein. Mini wird durch ihn mit der abfälligen Beschimpfung als „Banane“ konfrontiert, außen gelb und innen weiß zu sein. Und zwischen diesen beiden Polen, sich „Deutsch“ zu fühlen und Teil einer Chinesischen Familie zu sein, bewegt sie sich immer (selbst-)bewusster und differenzierter.

Bei der Arbeit im Restaurant und in der Auseinandersetzung mit dem Koch Bao erfährt Mini mehr über das Leben in Vietnam vor der Flucht und wie ihr Vater und seine Mitarbeiter durch die Fluchterfahrung miteinander verbunden sind. Die erzwungene Nähe zu der Lebensrealität ihres Vaters schafft Raum für mehr Verständnis, mehr Empathie und eine Art Arrangement, das weniger von resignativer Toleranz und mehr von kultureller Anerkennung für die eigene Herkunftsgeschichte geprägt ist.

Que Du Luu hat mich schon mit dem Eröffnungszitat von Pema Chödrön aus „Beginne, wo du bist“ berührt, das sie ihrer Erzählung voranstellt: „Nie möchten wir der Mensch sein, der wir sind.“ Damit habe ich mich als Leserin zugleich ertappt und gesehen gefühlt. Dieses Zitat ist so gesetzt, dass Leser*innen unabhängig von Herkunft und Migrationserfahrung mitfühlen können und gleichzeitig wird ein Gefühl beschrieben, das Menschen mit der Erfahrung von Othering, so vertraut ist, dass der Moment des Sich-Wieder-Erkennens gleich zu Beginn einstellt.

Onkel Wu bringt nicht nur den Begriff der “Banane“, sondern erzählt seiner Nichte auch vom Vier-nicht-ähnlich-Tier, das vier Tieren nicht gleicht. Mini kann sich in dem Vier-nicht-ähnlich-Tier wiedererkennen: "Denn was man nicht war, das wusste man ganz sicher, aber was man war, das wusste man nie so genau. […] Ich war der Vielen-nicht-ähnlich-Mensch."

Ich mag die Sprache, in der der Roman geschrieben ist. Da ist einerseits die Verknappung, die in kurzen Sätzen die Gefühle von den Worten abspaltet, und gleichzeitig sind diese knappen Sätze so nah an der Protagonistin dran, springen mit ihr und ihren Gedanken und Eindrücken, dass ich Mini als Leserin auch sehr nahe bin. Als Heranwachsende befindet sie sich im Widerspruch mit der Welt. Und so beobachtet sie ihre Umwelt mit einer Distanz, als würde sie sie von außen betrachten, und stellt ihre Fragen vorwiegend an sich selbst. Que Du Luu beschreibt den unterschwelligen Rassismus und den verächtlichen Blick auf Chines*innen, durch die Abwertung von allem Chinesischen, die Mini schon selbst verinnerlicht hat. Mit ihrem Gefühl für sich selbst, lässt sich das Chinesischsein nicht vereinbaren. Wer sich-nicht-vielen-ähnlich-sieht, fühlt sich allein. Wie vermutlich alle Teenager und noch einige andere mehr sucht Mini nach ihrem Platz in der Welt. Dabei geht sie den Worten und ihrer Bedeutung auf die Spur, so wie sie nach der eigenen Verortung sucht. Und so verhält sich auch die Sprache im Buch, die sich tastend auf den Weg macht, eine eigenständige Persönlichkeit zu werden und die Geschichte zu erzählen.

Eine Geschichte, die davon erzählt, wie es ist sich selbst überlassen aufzuwachsen. Fragen gegenüber zu stehen, die nicht selbst gewählt sind. Verantwortung übernehmen zu müssen. Was es bedeutet, wenn die Eltern fremder in der Gesellschaft sind als man selbst. Wie tief sich Fluchtgeschichten in die Biographie graben und das unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen einen nicht nur innerhalb einer Gemeinschaft isolieren, sondern auch innerhalb einer Familie. Das Sprache auch zwischen Menschen stehen kann und wie schwer es ist, eine gemeinsame Sprache zu finden, wenn es für bestimmte Bereiche des Erlebten keine Sprache gibt.
Für alles, für das es keine Worte gibt, gibt es das Nachfühlen und so legt sich Mini, in den Stunden, in denen sie die volle Verantwortung für das Restaurant trägt, auf die drei Stühle, die ihrem Vater sonst als Ruhebank in den Mittagspausen dienen.

Natürlich sind Eltern-Kind-Beziehungen komplexer, als dass sie sich durch eine Runde „Walk-A-Mile-In-My-Shoes“ in gegenseitigem Verständnis und Wohlgefallen therapieren lassen, aber der Vorgang des Nachfühlens zielt auch mehr auf die Lesenden ab, die Mini begleiten. Das Gleiche gilt auch, was das Wissen um Herkunft und kulturelle Bezüge betrifft. Diese bilden nur ein Puzzleteil einer Identität und lösen nicht unbedingt die Frage, wer man gerne sein möchte. Selbstakzeptanz ist vermutlich auch eine lebenslange Aufgabe. Dass wir aber durch das Teilen von Erinnerungen und das Erzählen von gemeinsamer Geschichte Verbindungen herstellen können, dass wir uns gegenseitig sehen und wahrnehmen können und dass das möglicherweise dazu hilft, uns besser spüren zu können, davon erzählt dieser Roman im Kleinen wie im Großen.

2016, als „Im Jahr des Affen“ erscheint, ist das Jahr, nach welchem Angela Merkel mit „Wir schaffen das!“ den Slogan ausruft, der die sogenannte Willkommenskultur geprägt hat. Es ist 38 Jahre her, dass die Bundesrepublik 1978 die Kategorie der „humanitären Flüchtlinge“ erfand und 40.000 Geflüchtete aus Südvietnam aufnahm. Dass selbst verhältnismäßig unbürokratische Integrationsmaßnahmen und eine freundliche oder zumindest tolerante Aufnahme der Boatpeople* noch kein Ankommen oder Finden einer neuen Heimat bedeuten, beschreibt der Roman in seinen Zwischentönen und ohne explizit darauf hinzuweisen. Vor welche Herausforderungen Menschen mit Migrationserfahrungen und ihre Familien gestellt werden, davon gibt er eine leise Ahnung und stellt damit die Frage, inwiefern wir als Gesellschaft noch weit davon entfernt sind, eine Willkommenskultur definieren zu können und dass wir nicht aufhören dürfen, darüber nachzudenken, was es bedarf, um sie zu umzusetzen.

Darüber hinaus gibt dieses Buch seine Stimme einer jungen Frau, die den (Jugend-)Literatur-Kanon um eine Facette von Herkunftsgeschichte reicher macht und ihrer Umwelt nicht allein mit Teenage Angst sondern auch mit einer gehörigen Portion an Witz und Sinn für Alltagskomik begegnet. Wir haben uns seit dem Fänger im Roggen mit mehreren Generationen umherirrender Teenager beschäftigt. Es war so an der Zeit für einen weiblich und asiatisch gelesenen Holden Caulfield aus einer westfälischen Kleinstadt.


Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017
Que Du Luu
Im Jahr des Affen

Carlsen Verlag
Erscheinungstermin: 18. März 2016
Lesealter ab 14 Jahren
ISBN 978-3-551-56019-3

Fußnoten:
[1] Boatpeople in Deutschland: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/170611/die-aufnahme-der-ersten-boat-people-in-die-bundesrepublik

Ein tolles Sachbuch für Kinder- und Jugendliche, auf das ich bei meinen Streifzügen durch die Bibliothek gestoßen bin, ist übrigens:

Jochen Oltimer & Nikolaus Barbian
Ein Blick in die Deutsche Geschichte - Vom Ein- und Auswandern
Illustration: Christine Rösch
Verlagshaus Jacoby & Stuart

Ein wunderschönes Bilderbuch, das die Geschichte der Boatpeople thematisiert, habe ich auf dem Instagram-Kanal @asianlitforkids entdeckt:

Thao Lam
The Paper Boat - A Refugee Story
Owlkids Books

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Interview mit Que Du Luu