Buchrezension: Weiches Begräbnis
Autorin: Susanna Ott
Content Note: In diesem Artikel geht es um Gewalt, Diskriminierungserfahrungen und Tod, die bei einigen Leser*innen negative Reaktionen wie schwierige Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks auslösen können. Bitte seid achtsam, wenn das bei euch der Fall ist.
Weiches Begräbnis - 软埋
Die Boden- bzw. Landreform ist ein Kapitel in der chinesischen Geschichte, deren Ereignisse nicht nur vielen westlichen Leser*innen sondern auch einigen chinesischen Leser*innen nicht vertraut sind.
Die Bodenreform fand zwischen 1949 und 1952 statt und Millionen von Chines*innen wurden in dieser Zeit gedemütigt, gefoltert und hingerichtet, nachdem sie enteignet, ihr Land konfisziert und an mittellose Bauern und Landarbeiter umverteilt worden war. Die Umverteilung des Großgrundbesitzes bedeutete auch, dass die weiblichen Angehörigen und Angestellten eines Haushaltes ebenfalls „umverteilt“ wurden. Die Vernichtung der „reichen Bauern“ ging einher mit der Vernichtung ganzer Familien. Ein Stoff, der historisch, kulturell und emotional nicht schwieriger verstrickt sein könnte, den Fang Fang ihren Leser*innen in ihrem Roman jedoch höchst einfühlsam präsentiert. Die 1955 geborene chinesische Autorin, die seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan lebt, wurde 2019 mit ihren Wuhan-Tagebüchern bekannt. Tatsächlich ist Weiches Begräbnis eines ihrer älteren Werke, das bereits 2016 in China erschien und zunächst von der Kritik gefeiert und gelobt, dann aber schleichend vom Buchmarkt verdrängt und aus den Regalen entfernt wurde, weil es von einer Parteikonferenz als „Giftpflanze“ eingestuft wurde. Nun liegt ihr Werk erstmals in deutscher Übersetzung vor und ist im Rennen um den Internationalen Literaturpreis 2021.
Was geschieht in dem Buch?
Das Buch erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die eines Tages in einem Krankenhaus aufwacht, nachdem sie aus den Fluten eines Flusses gerettet wurde. Sie hat keine Erinnerung an ihre Vergangenheit und beginnt ein neues Leben im Schutz des Vergessens. Ihr Sohn wächst in der autobiographischen Leere der Vergangenheit seiner Mutter auf und beginnt, diese zu erforschen, denn seine Mutter fällt in eine Stasis, als sie die Schwelle des Hauses überschreitet, das ihr Sohn ihr in Erfüllung seiner kindlichen Pflicht geschenkt hat. Durch die Erforschung der Vergangenheit seiner Mutter lernt der Sohn auch einen Teil der chinesischen Geschichte kennen, der ihm bis dahin verborgen geblieben war.
Warum ist das Buch so wichtig? - „Manche Leute entscheiden sich fürs Vergessen, andere fürs Aufzeichnen.“
An der Oberfläche erzählt die Autorin die Geschichte eines Gedächtnisverlusts. Die Leser*innen, die tiefer graben, erkennen bald, dass eigentlich die Notwendigkeit des individuellen Erinnerns in Frage gestellt wird. Lohnt es sich zu erinnern, wenn die Erinnerung mit einem Trauma belegt ist? Macht bzw. ist das Vergessen nicht leichter? Und wie wichtig ist kollektives Erinnern von geschichtlichen Gegebenheiten, die in der Gegenwart vergessen wurden, weil über sie nicht gesprochen wird und wenn dann nur durch harmlose und falsche Begriffe, die eigentlich zu klein sind für das was passiert ist. Und was macht das Verdrängen von Erinnerungen mit den Überlebenden?
Mit einem weichen Begräbnis ist eine Beisetzung ohne Sarg gemeint, wenn die Verstorbenen ohne den Schutz eines Sarges direkt in der Erde verscharrt werden. Dieses Schicksal ereilte unzählige Chines*innen in der “Reformzeit”.
„Doch ein lebender Mensch, der sich, ob bewusst oder unbewusst, radikal gegen seine Vergangenheit abschirmt, das Geschehene in sich versiegelt, seine Herkunft und seine Geschichte vollständig aufgibt und seine Erinnerung verweigert, erleidet ein weiches Begräbnis durch die Zeit.“ - Fang Fang
Als Leser*innen wird man mit der Frage gerungen, ob das Vergessen und Verdrängen alter Wunden heilsam ist und ob der Schatten des Schweigens Voraussetzung für ein unbeschwertes Leben sein kann. Unweigerlich stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Familienvergangenheit für die nachfolgenden Generationen und für das eigene Leben.
Ob das Buch ein Appell gegen das Vergessen und gegen das Verschweigen ist, wird den Leser*innen selbst überlassen. Für viele Leser*innen ist das kulturelle und historische Setting neu. Auch der Erzählstil ist ungewohnt, da die Erzählerin ihr Leben in einzelnen Episoden rückblickend erzählt.
Die Erzählweise ist klar, deutlich und schnörkellos. Einige Passagen des Buches sind unbequem zu lesen, weil die Autorin den Grausamkeiten ungeschminkt und kalt ins Auge blickt. Aber die Frage, ob man für ein unbeschwertes Leben auf das Wissen verzichten muss, was man eigentlich wissen sollte, ist erträglich.
Nominiert für den Internationalen Literaturpreis 2021
Fang Fang
Weiches Begräbnis - 软埋
Aus dem Chinesischen übersetzt von Michael Kahn-Ackermann
Verlag Hoffmann & Campe, 2021
Originalausgabe: 软埋 Ruan Mai, People's Literature Publishing House, 2016
Erscheinungsdatum 1. April 21