Familie ist das Wichtigste
Ein Liebesbrief an meine Freund:innen
Autor*in: Qian Wei
Spätabends rufe ich meine Mutter doch an, nachdem ich ihre Nachrichten für einen Tag ignoriert hatte - ich kann ihr nur antworten, wenn ich genügend Kraft für diese Interaktion habe.
Nach wenigen Minuten äußert sie, dass ich in Berlin doch ganz alleine wäre. Ich musste wieder stutzen und fragte nach, wie sie das meinte. “Na, du hast doch niemanden da oben.” Damals, als ich mit meinem Ex-Freund hierhergezogen bin, fand sie es auch besser, dass ich nicht alleine so weit wegziehe und einen Partner für dieses neue Kapitel hatte.
Sie betont das so oft, obwohl ich seit drei Jahren glücklich in dieser Stadt lebe - ohne Familie, oder zumindest ohne ihrem Verständnis von Familie.
Ich reagierte nur lächelnd darauf und erklärte ihr, dass ich hier sehr glücklich bin und viele Freund:innen habe. Sie nahm meine Antwort nicht weiter ernst und sprach ein anderes Thema an.
Doch was bedeutet Familie eigentlich?
Traditionell versteht man unter Jiātíng Mutter, Vater, Kind(er) und die Großeltern. Zusätzlich gibt es auch die ganzen random Tanten und Onkel, die entweder wirklich blutsverwandt oder nur gute und langjährige Freund:innen der Kernfamilie sind. Üblicherweise passen die Großeltern auch auf die Kinder oder das Kind auf, wenn die Eltern arbeiten und erziehen so den Nachwuchs mit auf. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Genauso wie es eine Selbstverständlichkeit ist, dass man sich super mit allen Familienmitgliedern versteht. Als Kind und Jugendliche verbrachte ich viel Zeit mit meinen Eltern und Geschwistern. Mit den Jahren merkte ich aber, dass wir teilweise sehr unterschiedliche Ansichten über bestimmte Dinge haben. Und ich muss auch sagen, dass ich es als Individuum vermisste, meine eigene Identität entfalten zu können, ohne diesen “Ruf” und dem Selbstverständnis der Familie.
Eine Sache, die mir bei westlichen Familien auffiel, ist, dass es normaler ist, sich nicht mit der Kernfamilie zu verstehen. Zu groß ist die Empörung und das Tabu, wenn man keinen Kontakt mehr zu seiner Familie pflegt. Doch die Gründe sind genauso vielfältig wie die Menschen selbst - es ist doch auch okay, Grenzen zu toxischen Familienmitgliedern zu ziehen, um alle Beteiligten zu schützen.
“Die Familie ist das Wichtigste” predigten meine Eltern immer wieder und wie wichtig es sei, Quality Time miteinander zu verbringen. Sie verglichen auch oft unser Familienverhältnis zu westlichen beziehungsweise deutschen Familien. Es sei viel zu “kalt”. (Damit meinten sie gefühlskalt und leer, weil westliche Familien ja meist nur wenige Kinder hatten und keinen guten Kontakt untereinander hätten.)
Mein Verständnis von Familie erweiterte sich und widerlegte mit der Zeit das Bild meiner Eltern. Denn für mich kristallisierte sich heraus, dass Freund:innen auch Familie bedeuten können und zumindest sucht man sich selbst seinen passenden Kreis aus. Je älter ich wurde, desto mehr wurden meine Freund:innen zu dem, was für mich eine “gesündere Version” von Familie ausmacht. Ohne Hierarchien, diesen demütigen Respekt vor den Älteren und ohne Ultimatum. Meine Freund:innen waren für mich ein sicherer Hafen, an dem ich ankommen konnte und mich ohne Vorurteile und tradierte Rollenbilder entfalten konnte. Die Welt ist voller gutmütiger Menschen, warum sollte man sich nur auf seine Blutsverwandten einlassen? Verwandtschaft ist kein Versprechen für gute Zeiten und den Familienstatus muss man sich verdienen.
Ich glaube stark daran, dass man sich nicht nur auf die Blutsverwandten versteifen muss und dass es in diesem Leben mehr gibt als starre Familienkonstellationen. Menschliche Beziehungen sind so viel mehr, als dass man es irgendwie einordnen könnte und ich wage auch zu behaupten, dass man sich von diesen konservativen Vorstellungen befreien kann.
An dieser Stelle möchte ich ganz klar betonen, dass ich trotz mancher Schwierigkeiten und familiärer Probleme meinen Eltern unglaublich dankbar bin für ihre Obhut und das Leben, was sie mir als postmigrantisches Kind in einem westlichen industrialisierten Land ermöglichen konnten. Ich konnte beziehungsweise kann immer noch Privilegien wie ein Dach über dem Kopf, Essen und Sicherheit genießen und habe tolle Geschwister, die für mich die Welt bedeuten.
Und ich werde weiterhin meine Mutter nach paar Tagen zurückrufen, zumindest wenn ich mentale Kapazitäten für eine weitere Auseinandersetzung habe.