Astronautenfamilien und Fallschirmkinder
Autorin: Susanna Ott
Illustration von Bella Wagner
Familie ist kompliziert. In der chinesischen Gesellschaft[1] ist sie die kleinste und wohl wichtigste Einheit und bildet die Grundlage für die gesamte gesellschaftliche Ordnung. Die Familie bestehen aus Verpflichtungen und Erwartungen. Es ist kaum vorstellbar, dass ein chinesisches Kind aufwächst, ohne von seinen Eltern die Worte zu hören: "Alles, was ich tue, tue ich für dich!" Dass Eltern all ihre Hoffnungen auf die nachwachsende Generation projizieren, mag kein spezifisch chinesisches Phänomen sein, mindert aber keineswegs die Erwartungen, die auf dem:r Einzelnen lasten.
Die traditionell streng hierarchisch geordnete chinesische Familie ist ein Konzept, das wie viele andere chinesische Traditionen historisch auf die Lehren des Konfuzius zurückgeht. Nach konfuzianischem Verständnis ist die Familie der Kern der fünf wichtigen Beziehungen, die ein Individuum hat. In allen Angelegenheiten steht die Familie an erster Stelle und genießt bei Entscheidungen höchste Priorität.
Auch die Rollenverteilung innerhalb der Familie ist im konfuzianischen Denken klar definiert: Der Vater nimmt die unangefochtene Position des Ernährers, Versorgers und Beschützers der Familie ein. Im Gegenzug wird ihm Autorität, Gehorsam und Respekt für Führung und Schutz entgegengebracht.
Eine der wichtigsten Rollen in chinesischen Familien spielt auch der Respekt vor den Älteren, was es ebenso schwierig macht, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. Von den Kindern wird noch immer erwartet, dass sie ihren Eltern gehorchen und die Älteren (aufgrund ihrer durch Lebensjahre erworbenen Weisheit) in der Familie ehren. Dies entspricht dem Prinzip der kindlichen Pietät, der kindlichen Pflicht, xiào shùn (孝顺), einem konfuzianischen Prinzip, das die Bedeutung des Alters hervorhebt. Mit xiào shùn kann auch eine Praxis ausgedrückt werden, nach der man lebt und die sich im täglichen Handeln zeigt.
Doch wie wird diese familiäre Verantwortung konkret wahrgenommen? Für viele chinesische Kinder ist xiào shùn eine Erwartung der eigenen Eltern: Wir sollen "anständig" lernen, studieren, arbeiten und unser Leben führen. Die Erfüllung dieser Pflicht ist sogar messbar: gute Noten, Aufnahme an renommierten Schulen und Universitäten, Abschluss in einem „harten“ Fach. Die Verfolgung persönlicher Interessen ist eher zweitrangig, und der persönliche Erfolg oder Misserfolg kann sich negativ oder positiv auf die ganze Familie auswirken. Aus diesem Grund treffen manche chinesische Kinder, unbewusst ihrer Pflicht als Kind folgend, Entscheidungen über ihre Zukunft unter Berücksichtigung der Gefühle ihrer Eltern und ihrer Verantwortung gegenüber der Familie.
In China sagt man, dass Eltern für ihre Kinder und Kinder für ihre Eltern leben[2]. Eltern stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinter die ihrer Kinder. Sie opfern manchmal sogar ihre eigenen Interessen, ihre Gesundheit und ihre Karriere.
Die Ausbildung der Kinder steht bei den Investitionen der Eltern immer an erster Stelle. Einige chinesische Eltern neigen dazu, sich stärker in die Entscheidungen ihrer Kinder einzumischen, weil sie dies als Ausgleich für die Opfer sehen, die sie für die Ausbildung ihrer Kinder gebracht haben. Im Gegenzug erweisen die Kinder ihren Eltern Respekt, d.h. sie gehorchen, tun, was sie wollen und widersprechen nicht.
Zum Vergleich: Obwohl die Familie auch anderswo einen hohen Stellenwert hat, wird hierzulande häufiger die persönliche Entwicklung in den Vordergrund gestellt. Es gibt keine unausgesprochenen ideellen Rückzahlungserwartungen, keine Schuldgefühle und keine Verpflichtung zu Dankbarkeit und kindlicher Pietät.
Dies führt paradoxerweise zu dem Phänomen, dass alle Beteiligten ihre eigenen Interessen opfern und letztlich niemand für sich selbst lebt. Diese Form der elterlichen Aufopferung erreicht ihren Höhepunkt, wenn Eltern ihre Kinder verlassen, um deren vermeintliche Bedürfnisse zu befriedigen.
Pik-Shuen Fung hat diese extremste Form der Aufopferung in ihrem Memoir „Ghost Forest“ literarisch verarbeitet. Auch Jenny Zhang widmet sich in ihrem 2017 erschienenen Erzählband „Sour Heart“ in verschiedenen Geschichten diesem Thema.
Die Hongkonger Massenmedien haben dafür auch gleich einen passenden Namen erfunden: "Astronautenfamilie". Eine Familie mit einem Astronautenvater oder einem anderen Verwandten, der mal hierhin und mal dorthin fliegt. Der Begriff wurde erstmals durch Hongkonger Immigrant*innen in Vancouver, Kanada, geprägt. Der Begriff wird häufig für chinesische Familien verwendet, deren Mitglieder in verschiedenen Ländern der Welt leben. Die Kinder dieser Familien werden als Satellitenkinder bezeichnet[3].
In der Regel, so auch in Fungs Buch, geht das Familienoberhaupt (der Vater) nach Taiwan, Hongkong oder auf das Festland, um dort zu arbeiten. Er kehrt in sein Heimatland zurück, um dort zu arbeiten. Die Frauen bleiben mit den Kindern im Ausland und kümmern sich um sie, damit die Kinder dort leben und lernen können. Sind die Mütter ebenfalls berufstätig, übernehmen die Großeltern die Betreuung der Kinder.
Parachute Children, als Fallschirmkinder[4] beschreibt ein weiteres Phänomen, diesmal aus der Perspektive der Kinder. Immer mehr Minderjährige wandern allein aus, um z.B. in den USA oder anderen Ländern zu leben und zu studieren, denn Bildung gilt nach wie vor als Schlüssel zu Erfolg, Ansehen und sozialem Aufstieg, so die traditionelle chinesische Überzeugung. Ein weiterer treibender Faktor, der viele wohlhabende Familien dazu veranlasst, auf den „Fallschirm“ zu setzen, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern, ist die politische Instabilität, unter anderem die Unsicherheit in Hongkong nach 1997, die unberechenbare Politik des Festlandes und die Beziehungen Taiwans zum Festland. Die Fallschirmkinder leben häufig allein oder kommen bei Verwandten, Familienfreund*innen oder einer nicht verwandten, aber bezahlten Betreuungsperson unter. Die in der Heimat verbliebenen Eltern haben oft intensive geschäftliche oder berufliche Beziehungen, die es ihnen finanziell ermöglichen, ihre Kinder ins Ausland zu schicken. Manchmal müssen sie auch Angehörige pflegen. Häufig hoffen die Eltern, dass ihre Kinder nach Abschluss des Auslandsstudiums in ihr Heimatland zurückkehren.
Auf der einen Seite stehen Astronautenfamilien und Fallschirmkinder für eine zunehmende Transnationalität der Identitäten von Menschen, die eigentlich der zunehmenden Globalisierung entspricht. Die Vorteile transnationaler Familien liegen in besseren Bildungschancen für die Kinder und darin, dass sie sich ohne größere (sprachliche) Schwierigkeiten in verschiedenen Kulturen bewegen können.
Sie haben aber auch irreparable Auswirkungen auf die heiligen chinesischen Familienbande. Zwar können Kinder wirtschaftlich von den Entbehrungen ihrer Eltern profitieren. Auch die Charakterbildung erfolgt manchmal auf Kosten einer verkürzten Kindheit. Eine längere Trennung von den Eltern kann sich aber auch negativ auf das Kind auswirken. Kinder aus Astronautenfamilien kämpfen mit einer verfrühten Unabhängigkeit, sie tragen eine frühe Verantwortung für Finanzen, Hausarbeit und ihre Noten und kämpfen oft mit dem Schmerz und der Einsamkeit der Trennung und der Entfremdung von ihrem Heimatort. Auch Ehen leiden unter der räumlichen Trennung der Eltern.
Die Forscher fanden heraus, dass Kinder von Astronauteneltern "ihre Eltern oft als instabile und fragmentarische Unterbrechungen in ihrem ansonsten unabhängigen Leben wahrnehmen". Sie stellten auch fest, dass das Arrangement "den Charakter der innerfamiliären Beziehungen verändert". „Es gibt die Vorstellung, dass Geld die Familie zusammenhält, aber die Realität, die emotionale Realität, ist, dass Geld die Emotionen nicht zusammenhält", sagte eine der Forscherinnen, Tse.
Das Tragische an diesem Konzept der transnationalen Familie ist, dass es unter dem Deckmantel des Kindeswohls die zentrale Bedeutung der Familie in der chinesischen Kultur untergräbt. Materielle Unterstützung ist zum Teil notwendig, um das Überleben zu sichern, aber sie kann weder eine Familie noch Eltern ersetzen. Das Konzept der Astronautenfamilien und der Fallschirmkinder ist eine vorübergehende Lösung, die darauf abzielt, eine Grundlage für die Erziehung zu schaffen, aber keinesfalls ein Zuhause.
[1] Es ist sehr wichtig zu verstehen und anzuerkennen, dass die Volksrepublik China ein sehr großes Land ist, in dem viele sehr unterschiedliche Kulturen leben. Daraus ergibt sich das Problem, dass es schwierig ist, das Phänomen Familie absolut zu beschreiben, da es je nach Region und Gebiet variieren kann. Für diesen Artikel werde ich mich auf die traditionellen chinesischen Familienwerte konzentrieren, die einst im größten Teil des Landes anzutreffen waren und von denen einige in Teilen des modernen Chinas überlebt haben.
[2] Dieses Phänomen nennt man Qin „親“ ; Wörtlich übersetzt heißt es "nahe sein"; Wu/Chao, „Parent–Adolescent Relationships among Chinese Immigrant Families: An Indigenous Concept of Qin“, Asian Am J Psychol. 2017 December ; 8(4): 323–338.
[3] Tsong, Liu; „Parachute Kids and Astronaut Families“, in Asian American Psychology, S. 366.
[4] Der Begriff fiel das erste Mal in dem Jahre 1980. Nach Regierungsangaben und Medienberichten kommen die meisten Fallschirmkinder aus Taiwan, gefolgt von Korea, Hongkong und China; Tsong, Liu; „Parachute Kids and Astronaut Families“, in Asian American Psychology, S. 365 -379.