阿义 A Yi (wenzhounesisch: Opa)
Autorin: Shu
Hallo Opa.
Du wirst diesen Brief zwar nie zu Gesicht bekommen, und wenn doch, würdest du ihn ohnehin nicht verstehen; dennoch möchte ich diese Zeilen für dich niederschreiben, in der Hoffnung, dass du sie auf eine andere Art empfangen kannst, sei es hier oder an einem anderen Ort.
Weißt du noch, wie ich jeden Sommer in 山坑 Shankeng zu Besuch war und du dich bei der Begrüßung immer widerwillig von mir umarmen ließest? Danach hattest du dich altgewohnt behutsam an meinem Arm hochgetastet, um zu erfühlen, ob ich gewachsen war. Jeden Sommer würdest du sagen: „Du wirst ja immer stärker! Das ist gut! Gesundheit ist gut!“, bevor du wieder in deine eigene Welt eintauchen und Gespräche mit deinen früheren Bekanntschaften führen würdest.
Weißt du noch, wie ich jeden Morgen nach dem Aufstehen zu dir herunterlief, um dir als Erste „踢锅和 Ti Guo He“ (wenzhounesisch: „Guten Morgen“) zu sagen? Du lagst zumeist noch auf deinem harten Bambusbett und hörtest Kirchenradio, während du dir mit einem Fächer aus Palmblatt zuwedeltest, um die Hitze erträglicher zu machen. Ich würde mich zu dir legen und deine Hand halten, während du weiter vor dich hinmurmeltest. Du würdest sagen, dass „alte Menschen […] schmutzig“ [seien], und versuchen, mich fortzuschicken. Doch ich würde dir jedes Mal widersprechen und deine Hand noch etwas fester drücken.
Weißt du noch, als du mir sagtest: „Du bist ein Mädchen, also wirst du irgendwann einen Mann heiraten und dann seiner Familie angehören.“? Das hatte mich sehr verletzt. Doch ich war dir nicht böse, denn ich kannte die Diskrepanz zwischen unseren Weltanschauungen. Du bist unter ganz anderen Umständen aufgewachsen und hast versucht, diesen entsprechend zu leben. Du hast das Wohl deiner Familie über das Deinige gestellt. Du hast gelitten und du hast überlebt, um noch etwas länger für deine Familie da zu sein. Dafür respektiere und bewundere ich dich.
Zwar war die Sprachbarriere zwischen uns schon immer gewaltig gewesen. Doch wir mussten nie ausgiebig reden. Wir wussten uns anders zu verständigen. Ein Gemurmel von dir und ein gestammelter wenzhounesischer Satz von mir endeten immerzu in einem lauten gemeinsamen Lachen, das uns wieder zusammenbrachte. Also hoffe ich auch jetzt, wo ich dich wahrscheinlich nicht mehr sehen werde, bevor du fortgehst; dass wir einander erhalten bleiben werden. Dass wir uns trotz der zusätzlichen, bald neu hinzukommenden Form der Distanz noch wie einst unterhalten können. Ohne viele Worte, so wie es schon immer zwischen uns war; dafür mit umso mehr Gelächter und Herzlichkeit, so wie es schon immer zwischen uns war.
In Liebe,
Deine Enkeltochter, die dich liebt und immerzu an dich denken wird, bis auch sie von dieser Welt verschwunden sein wird.
圆圆 Yuyu
Zusatzinfos: Mein Opa ist dieses Jahr um die 85 Jahre alt. Sein genaues Alter und auch seinen vollen Namen kenne ich nicht. Alles, was ich von ihm weiß, habe ich entweder bruchstückweise erfragt oder mir selbst anhand anderer Erzählungen mit zeitlichen Überschneidungen erschlossen. Demzufolge heiratete er Anfang Zwanzig meine Oma und bekam mit ihr fünf Kinder. Er war sein Leben lang Bauer und arbeitete hart, um mit dem wenigen Geld, das er für den Anbau von Reis und diversen Gemüsesorten erhielt, seine siebenköpfige Familie durchzubringen. In seinen Vierzigern hatte er eine Entzündung am linken Auge, die er nicht behandeln ließ, weil das Geld vorne und hinten nicht reichte. Er wollte es lieber für seine Kinder aufsparen und dachte sich nichts weiter dabei. Mit den Jahren verschlimmerte sich der Zustand seines Auges, sodass er eines Tages in seinen Sechzigern ins Krankenhaus gefahren wurde. Dort teilte man ihm mit, dass sein linkes Auge sofort entfernt werden müsse sowie, dass sein rechtes Auge auch bald an Sehvermögen verlieren würde. Er würde nach und nach gänzlich erblinden. Seitdem lebte er allein in einer abgesonderten Ecke des Hauses, das an den Wohnbereich der anderen angrenzte. Dieser Umzug geschah im Einverständnis von ihm, denn er wollte allein mit diesem lebensverändernden Schicksal fertig werden. Tag für Tag erlebte er, wie sein Augenlicht verblasste. Anfangs sah er noch Schatten, doch irgendwann war alles verschwunden. Fortan schlief, aß, wusch und unterhielt er sich überwiegend allein. Er sprach noch oft davon, „einfach sterben“ zu wollen, um anderen keine Last zu sein. Doch das ließ vor allem mein Erzeuger (3. Kind) nicht zu und besuchte ihn mehrmals im Jahr. Nun lebt mein Erzeuger schon seit knapp 1 Jahr bei ihm, um ihn auf seinen letzten Lebensmetern zu begleiten. Das ist ein kleiner Trost für mich; zu wissen, dass er zum Ende hin nicht mehr allein sein muss.