Buchrezension: Wovon wir träumen

Autor*innen: Linda, Qian Wei, Anna Tianye, Linda L., Zhu

Lin Hierse. Foto: © Amelie Kahn-Ackermann / Piper Verlag

Bis nach der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe standen wir als ZhongDe - Teammitglieder vorwiegend digital miteinander im Kontakt. Wir sind immer noch dabei, uns als Community zu formen und kennenzulernen. Im Schreiben und abseits der Tastatur. Die Lesung von Lin Hierse, Mitte März 2022 in der taz-Kantine, gehört für einige von uns zu diesen Begegnungen außerhalb des Zooms.

Mit ihrem Roman “Wovon wir träumen” hören wir die Stimme zu den Worten, die wir bisher in der taz-Kolumne verfolgt haben. Unsere Eindrücke und die Bedeutung, die dieses Buch für uns als Leser*innen aus der chinesisch-deutschen Diaspora hat, wollen wir möglichst vielstimmig teilen. Ihr findet hier keine Rezension im klassischen Sinne, sondern ein Klangbild unserer Gefühlsräume.

₍ᐢ. ̫.ᐢ₎ Lindis Gedankenchaos zum Büchle:
Immer zu viel zu tun, immer viel zu beschäftigt, ich brauche einen perfekten Zeitpunkt zum Starten. Das denke ich mir immer bei Dingen, die ich mir vornehme oder zu erledigen habe. Das Lesen des Buches “Wovon wir träumen” von Lin Hierse war keine Ausnahme davon.

Ich habe auf einen perfekten Zeitpunkt gewartet. Aber warum? Habe ich schon damals beim Klappentext ahnen können, beim kurzen Blättern und Anlesen der ersten Seiten, dass das Buch mehr sein wird als simple Unterhaltung für mich? Dass der Klang von “有一天你告诉我 [...]” oder “A’bu” mich Stolz, Vertrautheit und Sehnsucht fühlen lassen wird? Dass ich das Buch brauchen werde für mich in meiner Zeit des Vergebens und (Heran)Wachsens?

Bei den Erzählungen der Mutter-Tochter-Dynamik hatte ich stets die Beziehung zwischen meinem Freund und seiner Mutter vor Augen, nicht die mit meiner eigenen Mutter. Ständig vergleiche ich sie miteinander: Wie sie zusammen ein Glas Wein trinken und tanzen (? war das im buch oder nur in meinem kopf). Meine Mutter hasst Alkohol und Tanzen. Wie sie einen deutschen Mann kennengelernt, geheiratet und ihm nach Deutschland gefolgt ist. Meine Mutter ist alleine mit 19 nach Deutschland gekommen, meinen Vater hat sie erst Jahre später kennengelernt. Jährliche Reisen nach China. Ich war bis jetzt nur einmal in China, wir konnten uns keine jährlichen Reisen leisten. Ich weiß nicht, ob es auch mein allerletztes Mal gewesen ist.

Trotzdem sehe ich sie in einigen Nischen. Eigentlich nicht nur sie, sondern auch meinen Vater. Eigentlich meine ganze Familie in China. Wie viel mussten sie aushalten während des japanischen Imperialismus, während Mao Zedongs Kulturrevolution und ihren Folgen? Wie viel mussten sie alten Praktiken und Traditionen opfern, um als schön zu gelten? Zahlreiche Traumata der chinesischen Diaspora sind unausgesprochen und wurden von unseren Eltern und Großeltern vergraben. Während des Semesters machte ich es mir zur Aufgabe, diese Verletzlichkeit auszugraben und widmete mich in zwei universitären Arbeiten unserer Historie.

Kleinigkeiten, die auf den ersten Blick unscheinbar wirken, bringen eine Tiefe mit sich, die ich langsam zu verstehen begreife. Mein chinesischer Name zum Beispiel, welchen ich lange als Last empfand. Mein Vater gab mir sein Gefühl der Sehnsucht nach seinem Heimatdorf als Namen. Vermisst und denkt er so oft an mich wie an seine aufgegebene Heimat, wenn ich nicht da bin? Auch die Jade-Armreife von mir und meiner Mutter tragen mehr in sich als das bloße Mineral. Ich weiß nicht mehr, wo der Jade-Armreif meiner Mutter liegt. Er wurde entweder damals, als bei uns eingebrochen wurde, gestohlen oder sie hat ihn so gut versteckt, dass nur sie weiß, wo ein letzter Teil ihrer selbst liegt. Ich hoffe auf Letzteres. Meinen Jade-Armreif habe ich letztens verstaubt in einer Schublade in meinem alten Zimmer wiedergefunden. Ich habe ihn mitgenommen, doch ich fühle mich seiner Bedeutung noch nicht gewachsen genug.

Ich komme leichter Heim, leichter zu meinen Eltern nach Hause.
“Wovon wir träumen” hat mir einen Teil meiner Wut genommen und ersetzt mit Neugier, Verständnis und Sanftheit. Lin Hierses Buch hat mich an die Hand genommen und mir gezeigt, wie komplex, wie schrecklich und schön es sein kann, chinesisch-deutsch zu sein.


Wei-Wei’s Gedanken:
Ich habe seit langem nicht mehr so ein berührendes Werk gelesen! Es hat mich direkt mit dem ersten Kapitel gepackt und ich wurde in diese bekannte und vertraute Szenerie Shanghai’s befördert.

Kann ein Buch heilsam sein? Ja das kann es, definitiv. Ich fühle mich leichter verstanden, gesehen und nicht mehr so alleine mit dem Umgang meiner chinesisch-deutschen Identität.

Lin Hierse hat einen ganz speziellen und sanften Schreibstil, dass immer alle Sinne und das Herz, angesprochen werden. Sie hat eine wunderbare Art, Dinge realistisch darzustellen, ohne zu kitschig oder over-the-top beschönigend zu sein. Jede Seite gibt einem so eine kleine warme Umarmung. :)


Anna Tianyes Gedanken:
Als ich das chinesische Gedicht auf der ersten Seite erblickte, hatte ich erstmal Bauchschmerzen. Schriftzeichen schüchtern mich auf den ersten Blick immer noch ein. Es folgte Freude, als ich merkte, dass ich alles lesen und verstehen konnte. Eigentlich lese ich ja lieber auf Englisch. Aber Deutsch und Chinesisch nebeneinander in einem Roman stehen zu sehen, hat doch etwas mit mir gemacht. Es hat mich abgeholt. Jedes Schriftzeichen, das zwischen den Buchstaben hervorblitzte wie die Sonne hinter den Wolken, schien mir zu zuzwinkern. Und während ich las, dachte ich: Es hat sich alles gelohnt. Mein Studium, die letzten vier Jahre, der Besuch der chinesischen Samstagsschule, den ich als Kind so gehasst habe, das Verlieren und Wiederfinden dieser Sprache, um hier anzukommen und diesen Roman in den Händen zu halten.

Lin Hierse schreibt mit einer leisen Wortgewalt. Jedes Wort hat seinen Platz und wenn es sich doch mal anfühlte als würde die Geschichte abschweifen, stellte es sich immer als notwendig heraus. Ich habe jeden Satz in mich aufgesogen und unzählige Stellen markiert. Am besten gefallen haben mir die Bilder, die sie mit ihren Vergleichen in meinem Kopf gemalt hat.

Der Beziehung der Erzählerin zu ihrer Mutter wird viel Raum geschenkt. Raum, um sich voneinander zu entfernen und wieder anzunähern. Das finde ich schön. Teilweise habe ich mich und meine Mutter darin wiedergefunden. Dieser Roman hat mir eine Tür geöffnet und was zurückbleibt, ist die Neugier auf mehr Geschichten meiner eigenen Ma über ihr Leben in China und das, was uns beide verbindet.


Linda L.’s Kürzestrezension
Meine Geschichte geht zwar anders als die von Lin Hierse, aber die Matratzen mit Bambusmatten obendrauf und die Handtücher auf den Kissen, von denen sie schreibt, gibt es bei meiner Großmutter auch. Es ist als hätte sie diese Dinge mit ihren Worten verewigt, und damit auch meine Großmutter und wie sie und ich mit Ventilator in der Hitze von Hainan Mittagsschlaf machen. Hierse schreibt von Mantou zum Frühstück in Shanghai und vom Wohlfühlen an Flughäfen. Ich habe noch nie etwas gelesen, in dem so vielen mir vertraut gewordenen Gegenständen Bedeutung gegeben wird. Erst habe ich meine inneren mit ihren festgehaltenen Bildern verglichen; dann war es irgendwann einfach nur noch ein Zurückerinnern – das sich schön angefühlt hat.
Freue mich schon, wieder etwas von ihr zu lesen.

erste Gedanken von Zhu
Fehlende Objektivität mag man meinem Blick auf “Wovon wir träumen” vorwerfen. Zu verschnörkelt, zu selbstbezogen. Aber von welcher Objektivität sprechen wir in Buchrezensionen? Ich weiß noch, wie sehr ich auf die Veröffentlichung von Lin Hierses Buch hinfieberte und wie ich aufgeregt im Buchladen beim Buchstaben “H” suchte. Nie zuvor hatte ich einen Buchladen mit einer Geschichte verlassen, die meine eigene Lebensrealität auf diese Weise abgebildet hatte. Dieses kleine Mädchen auf dem Cover bin ich, sind alle anderen von ZhongDe.

Der Roman ist nicht nur aufgrund seiner anderen Buchkategorie nicht in der Nähe von Sachbüchern, die in roten Umschlägen auf Tischen ausliegen, zu finden. Auch das, was nach dem Lesen bleibt, ist anders. Das Werk stellt einen sanften, aber klaren Gegenpol zu Büchern dar, die die sogenannte “China-Kompetenz” zu vermitteln versuchen. Lin Hierse schafft es Lesenden entweder die eigenen und/oder neue Perspektiven auf die chinesische Kultur, Chines*innen und Chinesisch-Deutsche zu schenken.

Die Frage der Identität wird zwar auch seit ein paar Jahren in der Dominanzgesellschaft diskutiert. Aber es wird auch viel über “Identitätspolitik” gesprochen und weniger mit den Menschen, für die sich die Identitätssuche beispielsweise über Kontinente erstreckt. Oftmals enthalten die Diskussionen eurozentrische, heteronormative Blicke auf Körper von BIPoC und queeren Menschen. Für mich erzählt Lin Hierse’s Buch nicht nur eigene Erfahrungen und die Formulierung der eigenen Identität. Es zeigt auch, was Chines*innen durch mediale Narrative oft abgesprochen wird: komplexe Gefühlswelten, kritische Fragen, Träume, Verletzlichkeit und Liebe.

Shanghai, Shaoxing, das eingeschweißte Geschirr, die Sojamilch - das alles ist mir vertraut. Diese Art des Wiedererkennens jedoch war mir neu. Beim Lesen begleitete mich stets eine leise Sorge. Die Sorge, nicht nur der Schönheit, sondern auch der eigenen Trauer, dem Schmerz des Dazwischen-Seins wieder gegenüber zu stehen, der eigenen scheinbaren Unzulänglichkeit, die durch rassistische Systeme konstruiert wurde. Oder die Sorge, dem eigenen Unwissen zu begegnen. Einige dieser Momente gibt es im Buch, aber das war okay. Die Protagonistin hat sich und mich weiter navigiert. Zwischenzeitlich bin ich beinahe erschrocken darüber, wie ähnlich wir zu denken scheinen, dann wieder sehe ich in ihr eine Figur, die ich gerne mal auf einen Tee oder Kaffee treffen würde.

Immer wieder habe ich mich gefragt, wie wohl die Beziehung der Protagonistin zum Vater aussieht und wie er sich zur Migrationsgeschichte der Mutter und zur Identitätssuche der Tochter verhält. Wegen meiner eigenen Geschichte wollte ich zwischen den Zeilen bohren, Antworten darauf finden und kritzelte mit Bleistift am Rand.

Die eine chinesisch-deutsche Realität gibt es so natürlich nicht. “Poetical Correctness” heißt die Kolumne von Lin Hierse bei der taz. In dieser persönlichen und unfertigen Rezension möchte ich den Titel erweitern und den Roman als eine mögliche poetische Korrektur verstehen. Als Korrektur eines Narrativs, das der Protagonistin von der Dominanzgesellschaft übergestülpt wird. Durch ihr Erzählen und ihre eigene Suche kehrt sie es um, erzählt selbst über sich und schafft Räume für uns.

Unfertige Rezension deshalb, weil ich befürchte, dass ich dem Roman nicht gerecht werden kann. Oder dem, was er mir bedeutet.

Falls du das hier liest:

Danke, Lin.

"Wovon wir träumen" von Lin Hierse
Piper Verlag | € 18,00 [D], € 18,50 [A] | Erschienen am 10.03.2022 | 240 Seiten, Hardcover

EAN 978-3-492-07074-4

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