außen Ingwer, innen Kartoffel?

Wenn auch der Hinflug die Heimreise ist

Autorin: Zhu

Illustratorin: Jiayu Ni

Ein winziger Blick in den Garten meiner Identität. Von verwelkten Blüten, vergifteter Erde, tiefergehenden Wurzeln und aufgehenden Knospen. 花 (huā) ist das erste chinesische Wort, das ich in meiner Kindheit gelernt habe. Seit dem habe ich von Zeit zu Zeit gesät, umgetopft, gedüngt und beobachtet. Der Text ist lang - ich habe Tee aufgekocht, setzt euch gern zu mir.

An einer Wand in meinem Wohnungsflur lässt ein Zettel mich und meine Gäst*innen wissen:

Ich bin viel “sowohl als auch”. Viel “und” statt “entweder oder”.

Den ersten Satz glaube ich irgendwo mal gelesen oder gehört zu haben, aber ich erinnere mich nicht mehr daran wo oder wer ihn gesagt hat. Das Thema Identität ist mindestens so komplex wie es groß ist und ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, wo ich da überhaupt anfange. Wer oder was bin ich eigentlich in diesem unendlich großen Universum? Was ich definitiv weiß, ist, dass ich dem Thema nicht in einem Artikel, auch nicht in zweien, gerecht werde. Es ist schwierig, chronologisch zu erzählen, weil das Leben nicht nur sequentiell passiert, sondern auch parallel - so wie in einem Garten: Blumen, die an der einen Stelle gedeihen und anderswo andere zur selben Zeit verwelken.

Auf dem Papier beginnt mein Chinesisch-Deutsch-Sein in den 90ern und mein Wachstum ging zunächst gen Westen. Erst über die Jahre hinweg hat auch die chinesische Seite etwas mehr Sonne abbekommen und es sind mehrere Knospen gesprossen und bestehende Wurzeln tiefer gewachsen; die schönsten Blüten vielleicht sogar erst seit Beginn der Corona-Pandemie aufgegangen – wie makaber. Ich bin mixed-race. Bei mir persönlich heißt das, dass ich eine weiß-deutsche Mutter und einen chinesischen Vater habe. Meine äußeren Merkmale sind eindeutig und können von einem neuronalen Netz am Shanghaier Flughafen ohne Probleme identifiziert werden. Ich bin eine, die vor Pandemie-Zeiten ohne Schwierigkeiten einen Stempel mit den fünf Sternen in ihren Reisepass an der Grenze bekam; die Farbe des roten Stempelkissens ist seit mehr als zwei Jahren getrocknet. Weniger eindeutig jedoch ist meine innere, chinesisch-deutsche Identität.

In Deutschland geboren und groß geworden war mein Umfeld in Kinderzeiten fast ausschließlich weiß-deutsch: die wichtigsten Bezugspersonen, erste Freund*innen im Kindergarten und der Grundschule. Meinen Vater habe ich in jungen Jahren selten gesehen und Kontakt zur chinesischen Seite meiner biologischen Familie hatte ich daher keinen. Man könnte sagen: meine Sozialisation machte mich zu einer 1A Kartoffel. Relativ schnell wurde mir aber klar, dass dieses Gefühl der Zugehörigkeit auf wackligen Beinen stand. Denn: von außen sehe ich gar nicht so nach Kartoffel aus. Wie bei einem Wackelbild ähnele ich je nach Perspektive eher einer Ingwerknolle, die sich in einer kleinen deutschen Großstadt verirrt hat. Disney’s Mulan war damals eine der wenigen BiPoC-Figuren, die mir irgendwie ähnlich sah – und meine große Heldin. Da öffnete sich die Tür zu einer Welt, die mir bisher verschlossen blieb und zu der ich doch irgendwie gehörte, oder? Eine Welt, über die ich mehr wissen wollte. Ich erinnere mich gut daran, dass besonders ein Lied mich jedes Mal tief getroffen hat: “Wann zeigt mir mein Spiegelbild, wer ich wirklich bin?” Ja, wann eigentlich? Und war ich überhaupt bereit für das, was da auf mich wartete? Ich wollte meinem Vater und seiner Geschichte – unserer – nah sein und sie mitgestalten, spürte aber auch die Sorge in mir wachsen, dass mich das von meinem weiß-deutschen Umfeld entwurzeln würde, wo es mir eh schon schwer fiel, festen Boden unter den Füßen zu erlangen. Zu Hause war Chinesisch-Sein anfangs gar kein Thema – wie sollte das dann außerhalb der eigenen vier Wände positiven Anklang finden? Meinen Vater sah ich nach wie vor nur selten – wen sollte ich also fragen?

Als Teenagerin war mein Wunsch nach Zugehörigkeit zur weißen Dominanzgesellschaft sehr groß, und da passte das Chinesisch-Sein irgendwie nicht rein. Britisch, das wäre zu Hochzeiten von The Kooks hip gewesen, aber Chinesisch? Das galt damals, als es noch keine Shang-Chi Held*innen gab, als fremd und uncool. Ich wollte mich anpassen, nicht auffallen; wie naiv von mir zu glauben, dass das funktionieren würde. Manchmal steckte ich wegen eines Teils meiner Herkunft bis zum Hals in einem matschigen Gemisch aus Selbstverleugnung, Zweifel und Scham. Die Sehnsucht der kleinen Zhu nach dem Kennenlernen, was es heißt, Chinesisch zu sein, war jedoch niemals erloschen – im Gegenteil. Die Samen dafür lagen schon seit Jahren tief in der Erde. Doch gerade in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine chinesische Community. Ich konnte nicht mit anderen chinesisch-deutschen Jugendlichen darüber sprechen; hatte keinen Zugang zu Gruppen oder Safer Spaces, in denen ich meine chinesischen Wurzeln mit mehr Selbstliebe und -akzeptanz hätte gießen können. Ich unterdrückte meinen Wunsch die Schönheit der chinesischen Kultur kennenzulernen, erstickte meine Bedürfnisse im Keim und mein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Vater vergiftete mich von innen. Fragen über China nicht adäquat beantworten zu können fühlt(e) sich an wie unter einer Regenwolke aus Peinlichkeit und Enttäuschung zu stehen.

Meiner Wahrnehmung nach fühlt mein Vater sich hier in Deutschland nicht sicher genug, um sein Chinesisch-Sein entfalten zu können, was den gemeinsamen Raum für Geschichten-Erzählen noch kleiner macht. Reisen in seine Heimatstadt, in der ich mich auf eine Weise schnell zu Hause fühlte, brachten mich meinen chinesischen Wurzeln ein kleines bisschen näher. Und doch erhaschte ich in der kurzen Zeit immer nur kleine Splitter von dem, was die Kultur, das Land und die Menschen dort ausmacht. Ich versuchte wie aus einer Quelle Wasser mit meinen Händen zu schöpfen und wollte damit die Samen in meinem Garten beträufeln. Doch meine Hände waren nur mit zwei Wochen gefüllt und wertvolle Tropfen rannen mir auf dem Heimweg durch die Finger. So wie man das Vibrieren des Flugzeuges nach dem Landen noch im Körper spürt, konnte ich zurück in Deutschland fast nur noch das rhythmische Zirpen der Insekten hören, das mich an den Puls meines chinesischen Herzens in meinem Brustkorb erinnerte.

Sprache und Namen können auch ein wesentlicher Aspekt von Identität sein, ob durch Zuschreibungen von außen oder Selbstbestimmung. Ich habe einen deutschen Vornamen und einen chinesischen Familiennamen. Neuen Personen im privaten Umfeld stelle ich mich oft mit meinem Familiennamen vor, auch wenn ich mindestens mit einem verwirrten Blick oder einer übergriffigen Frage zu meiner Familiengeschichte rechnen muss. Dieser Nachname macht in der weißen Dominanzgesellschaft sichtbar und diese Sichtbarkeit hat zwei Facetten. Sie kann zu Problemen bei der Wohnungssuche führen, dass viele Fragen gestellt werden, auf die ich gar nicht immer antworten möchte, und Unternehmen wiederum erhöhtes Interesse an mir haben. Der Name unterstreicht noch einmal mehr die Abgetrenntheit vom weiß-Deutsch-Sein. Gleichsam macht der Name eben meine Wurzeln sichtbar, zu denen ich heute mit mehr Selbstsicherheit stehe. Zhu ist Zinnober-Rot, eine kraftvolle Farbe.

Dieses Rot ist aus politischer Sicht auch eine Farbe, die westliche Demokratien nicht gerne sehen und eine Gefahr darstellt. Chinesisch-Deutsch-Sein erzeugt auch im Kontext Politik ein Spannungsfeld. Nachrichten aus der eurozentrischen Perspektive trafen mich schon als Kind wie Kugeln aus einer Pistole und das eindimensionale Narrativ in Massenmedien und Kommentarspalten repräsentierte China als das Böse und entmenschlichte die chinesische Bevölkerung – damit auch meinen Vater und mich. Wie mit einem Rasenmäher wird durch das westliche Framing mit Aufzeigen von Problemen auch sämtliche Schönheit des Landes gewaltvoll und gezielt zerstört. Auch heute erwarten die Leute von mir, dass ich mich entscheide, zwischen West oder Ost, rechts oder links. Wenn ich Kapitalismuskritik anbringe, heißt das für viele automatisch auch, dass ich die Entscheidungen der chinesischen Partei gutheißen würde. Für eine einfache Handhabung meinerseits erwarten sie ein Entweder Oder von mir. Nur selten ist da Raum für ein Abgrenzen von kapitalistischen Strukturen, genauem Hinsehen und Diskurs. Oft gebe ich in “Gesprächen” schließlich auf und bleibe mit Wut zurück.

Und Wut ist auf eine Weise unterbewusst die meiste Zeit präsent. Mein Gesicht ist auf eine Weise markiert und mein Körper wird mit Ängsten und Fantasien anderer projiziert. Mixed-race Personen sagt man nach, dass sie “eine gute Mischung” seien. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft mir das ungefragt mitgeteilt wurde. Mikroaggressionen und Othering gehören zum chinesisch-deutschen Alltag dazu und zertreten schöne Blüten, die ich mühsam zu schützen versuche. Es ist wichtig zu betonen, dass mixed-race Chinesisch-Deutsch-Sein eine andere Lebensrealität erschafft als für chinesisch gelesene Personen, die sich als Chinesisch-Deutsch identifizieren.

Ich erlebe manchmal auch white-passing und identifiziere mich als cis heterosexuelle Frau. Dadurch und durch viele weitere Aspekte habe ich Privilegien, die andere nicht haben. Oft wird dann aber doch nachgefragt, denn ich habe ja “irgendetwas exotisches” in meinem Gesicht. Mixed-race Sein erzeugt durch die verschwommenen Grenzen, die transnationalen Räume und Pluralität aber nicht nur ein Spannungsfeld im Außen. Da sind immer diese Fragen in mir: wo gehöre ich eigentlich hin? Bin ich das eine oder das andere? Mein Zuhause ist doch hier, oder? Sind meine Gedanken und Gefühle überhaupt valide? Manchmal befürchte ich, dass ich weder zu der einen Gruppe, noch zur anderen gehöre, von außen aber erwartet wird, dass ich mich entscheide. Der Wunsch nach Zugehörigkeit, die Unsicherheit, die Uneindeutigkeit können deine Seele wie ein Schädling befallen und dich auffressen.

Mein weiß-deutsches Umfeld war vor allem in den Jahren meiner Kindheit nicht dafür sensibilisiert, was es heißt, ein mixed-race Kind großzuziehen. Wie sollten sie es verstehen, mit wem sollte ich darüber reden? Identität kann eine große Rolle in zwischenmenschlichen Beziehungen spielen und mixed-race Beziehungen bringen noch eine zusätzliche Dimension rein, die nicht vernachlässigt werden sollte. Absprechen von Erfahrungen und das Herabwürdigen der nicht-westlichen Kultur innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen sind nur zwei Formen von Gewalt. Hier ein Appell an alle, die mixed-race Beziehungen führen: Gebt aufeinander Acht. Und mit Beziehungen meine ich jegliche Art von Beziehungen: Partnerschaften, Freundschaften, kollegiale Beziehungen, usw. Der Appell richtet sich vor allem an die, die durch ihre Privilegien in der Gesellschaft eine höhere Position haben, wodurch ein Machtgefälle entsteht:

Beschäftigt euch bei genügend Kapazität mit dem Thema. Gebt Raum für Identitätsentwicklung und -entdeckung, kommuniziert mit euren Liebsten, was sie brauchen. Seid solidarisch und macht Check-In’s.

In den beiden vergangenen Jahren, 2020 und 2021, haben die Pflanzen auf der östlicheren Seite meines Identitätsgartens richtig Wurzeln geschlagen, und durch diesen Halt fühle ich mich freier als je zuvor. Heute finde ich mich in Zeilen von “Identitti” und “why we matter” und Posts auf Social Media. Die selbstbestimmte Sichtbarkeit erblüht, die deutsch-asiatische Community organisiert sich und wächst zusammen. Da ist Raum für Individualität und verschiedene Perspektiven, und Zeichen der Solidarität, des Zusammenhalts, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. Der Brave Space der deutsch-asiatischen Community (jeden 1. Montag im Monat*) und ein Get-Together nach dem Anschlag in Atlanta** haben mir Raum für Austausch, Entfaltung, Verständnis, Sicherheit und Wachstum gegeben. Da waren auf einmal Menschen, die mich auf einer ganz anderen Ebene verstanden haben, wenn ich sage, dass ich Angst habe, wenn mein Vater alleine draußen auf der Straße geht. Obwohl meine weiß und nicht-chinesisch-deutschen PoC-Freund*innen mir so nah stehen, war da immer eine Distanz im Dialog. In den vergangenen zwei Jahren durfte ich unheimlich tolle Menschen kennenlernen. Gemeinsam haben wir eine Kundgebung gegen Anti-Asiatischen Rassismus in Köln 2021 organisiert und ZhongDe gestartet. Wie ich auch in der Teambeschreibung geschrieben habe: ZhongDe ist eine mutige Einladung Geschichten zu erzählen, Schutz in radikaler Verletzlichkeit zu finden und eine zärtliche Abrissbirne, um Mauern der Angst einzureißen. Manchmal sind Worte wie Ingwer – scharf, aber auch heilsam.

Deutsch bin ich… irgendwie… Chinesisch-Sein ist bei mir mit viel Sehnsucht verbunden. Ich sehne mich oft nach einer Version von mir, die Chinesisch richtig gut beherrscht, einer Zhu, die mehr über die chinesische Geschichte und Kultur weiß und mehr versteht. Da ist nicht nur die räumliche Distanz, da ist eine intellektuelle, eine im Herzen. Diese versuche ich mit Musik von chinesischen Zupfinstrumenten beim Kochen, chinesischen Serien, Sprachkursen zu verringern und meine Arme gen Osten auszustrecken. Das oben angesprochene Spannungsfeld zwischen dem Außen und dem Innen, zwischen weiß-deutschen und BiPoC-Gruppen spüre ich natürlich nach wie vor. Ich will beiden gerecht werden, ich will mir gerecht werden. Das ist nur gar nicht so einfach. Diese Wachstumsschübe, über die ich unheimlich dankbar bin, haben auch Trennungen hervorgerufen. Manche Menschen haben mich beim Umtopfen unterstützt, manche sind wortlos gegangen. Abgestorbene Blätter soll man abschneiden.
Ich möchte die neuen Räume in der Gemeinschaft, die wachsende Liebe zu mir selbst, die transformative Kraft der Wut und den notwendigen Selbstschutz nutzen, meinem jüngeren Ich verzeihen, gemeinsam mit anderen heilen, das nicht klar definierbare Chinesisch-Deutsch-Sein entdecken und gestalten. Ich bin viel “sowohl als auch”. Ich muss mich nicht entscheiden für das eine oder das andere. In einem Garten können viele verschiedene Blumen nebeneinander blühen.


Zusatzinformationen:
花 (huā) auf Deutsch: Blume, Blüte
* Brave Space: Informationen über @heylinalam auf IG
** https://www.korientation.de/atlanta-offener-brief/


Buchverweise:
Mithu Sanyal (2021): Identitti. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München
Emilia Roig (2021): why we matter. Das Ender der Unterdrückung. Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

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