Bittersüße Gefühlsolympiade
Ich treffe zum ersten Mal meine chinesische Familie
Autorin: Zhu
Ich habe mehrere Familien: meine biologische Familie, die Familie meines Patenonkels, meine Freund*innen. Sie alle liebe ich. In diesem Text geht es um meine chinesische Familie und meine ersten Begegnungen mit ihr. Er zeigt Momentaufnahmen einer endlosen Geschichte, gefiltert durch die Buchstaben und Worte, die mir die deutsche Sprache bietet. Ich widme ihn ihr, auch wenn sie ihn nie lesen oder verstehen wird.
Ein leises Knirschen ist zu hören. Ich sitze auf der Kante eines alten hölzernen Bettes. Vor mir, auf einem kleinen Hocker, steht eine gelbe Plastikschüssel. Zum ersten Mal löffele ich Wassermelone aus der einen Hälfte dieser Frucht und versuche es der Frau meines ersten Onkels nachzumachen: Löffel rein, Kerne im Mund sortieren, zielen und ausspucken. Lächelnd deutet sie auf die Schüssel und lacht, wenn ich nicht treffe.
Es ist 2008, das Jahr, in dem die olympischen Sommerspiele in Běijīng (北京) stattfinden. Das Jahr, in dem ich das erste Mal mit meinem Vater nach China reise. Ich versuche während dieser zwei Wochen meine ganz eigenen Disziplinen zu meistern: das Verstehen von Mimik, das Unterdrücken meines Hustens wegen des für mich teilweise zu scharfen Essens, Freistil in einer Stadt mit 13,9 Millionen Einwohner*innen, das Nicht-Verlieren meines Vaters in der Menschenmenge. Ich bin 14 Jahre alt, die chinesische Wegbeschreibung zum deutschen Konsulat für den Notfall in meinem geblümten Rucksack immer dabei.
Mein zweiter Onkel, seine Frau und mein jüngerer Cousin holen uns vom Flughafen in Shànghǎi (上海) ab. Nicht nur, dass ich das erste Mal dieses Land betrete, seine Geräusche höre und neue Gerüche wahrnehme. Ich treffe zum ersten Mal auf meine chinesische Familie und weiß nicht einmal, nach welchen Gesichtern ich am Ausgang Ausschau halte. Ohne viel Körperkontakt, ohne herzliche Umarmungen, wie ich es aus Deutschland kenne, begrüßen wir uns. Auch mein Vater ist nach langer Zeit wieder in China. Und dennoch gibt es nur einen Händedruck – diese Distanz irritiert mich. Die beiden Männer sprechen miteinander und gehen voran. Es hört sich an, als ob sie sich streiten. Einige Dialoge später erklärt mir mein Vater, dass sie sich ganz normal unterhalten und ich gewöhne mich an die harte Melodie des Dialekts. Mein kleiner Cousin zieht meinen Koffer hinter sich her und seine Mutter ist dicht an meiner Seite. Sie legt ein unsichtbares Schutzschild um uns. Wir gehen schweigend nebeneinander und lächeln verlegen, still-nah.
In diesem Jahr steht der alte Häuserblock, in dem mein Vater und seine Geschwister groß geworden sind, noch mitten in Hóngkǒu (洪口). Durch die Blätter der Bäume sehe ich den Oriental Pearl Tower, der auf der anderen Seite des Huángpǔ-Flusses (黄浦江) steht. In diesem Jahr lebt meine Großmutter, die ich hier zum ersten und letzten Mal sehen werde, noch. Wir betreten das Erdgeschoss des alten Hauses mit niedrigen Türrahmen, der schmalen Treppe, der Eingangstür, die eher einer Tür eines alten Schuppens im Garten deutscher Einfamilienhäuser gleicht. Dort sitzt sie, eine kleine Frau auf einer Bank, ihre Falten erzählen ihre Geschichte. Eine, die auch ein Stück weit meine ist und die sie mir nie erzählen konnte. Ich stehe ihr mit etwas Abstand gegenüber und trete unbeholfen von einem Bein auf das andere. Sie schaut mich an, spricht auf Shanghai Dialekt zu mir; ich kann sie nicht verstehen. Nun, nach all den Jahren, in denen sie wusste, dass es mich gibt, ist sie mir so nah wie noch nie, aber unsere Sprachen bringen uns wieder achttausendachthundertvierunddreißig Kilometer auseinander. Ich sehe sie zum ersten Mal, da sie sich nicht fotografieren lassen wollte. Sie hatte Sorge, dass ihr Geist in dem kleinen Apparat eingefangen werden würde - so jedenfalls meine Erinnerung an die Erklärung. Ich weiß nicht, ob ich sie berühren darf, ob sie mich in den Arm nehmen möchte, so wie ich es von weiß-deutschen Omas kenne. Und so stehe ich dort, im Eingangsbereich des alten Hauses, höre die Elektroroller von draußen hupen. Der bittere Geschmack eines zerkauten Wassermelonenkerns macht sich in meinem Herzen breit.
Mein erster Onkel wohnt noch im alten Haus zusammen mit seiner Frau, meinem älteren Cousin und meiner Großmutter. Mein zweiter Onkel und meine Tante hingegen wohnen beide mit ihren Familien (Ehepartner*in und ein Kind) weiter weg, nicht im Zentrum der Stadt. Dafür in neuen Wohnblocks, in denen ein Haus vermutlich mehr als 25 Etagen hat. Bei allen Besuchen bekomme ich von nun an Wassermelone serviert und ich schmecke das süße Vertrauen, die süße Zärtlichkeit, die meinen Durst in dieser schwülen Sommerhitze stillen. Überhaupt entwickelt sich Essen als unsere Geste der Liebe. Die Mutter meines kleinen Cousins legt mir Dinge in die Schüssel, von denen sie denkt, dass sie mir schmecken könnten. Zum Abendessen sind wir bei meiner Tante und meiner Cousine eingeladen. Teller und Schüsseln türmen sich; ich übe unbeholfen Gewichtheben mit meinen Stäbchen. Die Küche, in der wir zu fünft gequetscht um einen kleinen Tisch im 15. Stock sitzen, füllt sich mit lautem Lachen als mein Vater meine Frage übersetzt, ob der Mann meiner Tante Koch sei. Ein kleiner, flauschiger Hund springt aufgeregt umher und stimmt in das Lachen ein.
Eine chinesische Familie zu haben bedeutet für mich auf einmal, dass ich das Gesicht meines Vaters in den Gesichtern seiner Geschwister sehe. Die Wangenknochen, die Nase, die Lachfalten. Wenn mein Vater auf den Straßen der kleinen deutschen Großstadt, in der wir wohnen, spaziert, ist sein Körper so selten, so verletzlich. Nun, in unserem Restaurantraum in Shanghai spiegelt sich sein Gesicht mehr als viermal in dem drehbaren Glasteller auf dem Tisch, von dem ich mir das letzte Jiǎozi (饺子) angele, das mein Cousin mir übrig gelassen hat.
13 Jahre später hat sich vieles verändert. Der gesamte alte Häuserblock wurde mittlerweile abgerissen, es gibt Streit in der Familie wegen Geld, mein kleiner Cousin ist längst größer als ich. Auch ich bin gewachsen – vor allem meine Herzmuskeln. Ich bin nun erprobter in Gefühlsathletik und das ist definitiv ein Sport, der als olympisch anerkannt werden sollte! Erst Jahre später kann ich einige der Gefühle dieser ersten Begegnungen als Scham, Schuld und Momente der Verbundenheit und chinesischer Zuneigung richtig einordnen – bittersüß. Und so sitze ich nun hier, löffele aus einer Wassermelonenhälfte und manche Kerne landen immer noch neben der Schüssel. Ich habe gelernt, dass ich die Schüssel gar nicht treffen muss und auf einige Kerne beiße ich ganz bewusst: der bittere Geschmack ist Teil meiner Geschichte und ich umarme ihn.